Der Mann ohne Vergangenheit
Entdeckung, die sie in den nächsten paar Sekunden machen würde. Selbst das Gehirn war trotz aller Aufmerksamkeit fürs Detail nie auf den Gedanken gekommen, die Leichenhalle zu überprüfen. Schließlich waren im Logbuch der T-22 nur zwei Lebewesen erwähnt worden, die beide schon vor langer Zeit als Alar und Haze-Gaunts Affenwesen identifiziert worden waren.
Für den Augenblick vermied sie es, auf das zu blicken, was sich in der Kammer befand, sondern las statt dessen die mit Maschine geschriebene und eingerahmte Inschrift, die oben angebracht war:
Unidentifiziert und nicht beansprucht. Am 21. Juli 2172 von der kaiserlichen Flußpolizei bei Wheeling aus dem Ohio gezogen.
War es Kim?
Schließlich zwang sich Keiris, in den Sarg zu blicken.
Es war nicht Kim.
Es war eine Frau. Der Leichnam war von den Zehen bis zu den Brüsten lose in ein dünnes Leichentuch gehüllt. Das Gesicht war bleich und hager, und die durchsichtige Haut spannte sich straff über die ziemlich hohen Wangenknochen. Das lange Haar war mit Ausnahme einer von der Stirn herabhängenden weißen Strähne schwarz.
In dem Schloß hinter ihr drehte sich ein Schlüssel. Sie mochten nur kommen.
Die Tür wurde aufgerissen. Jemand sagte im barschen Ton der gutausgebildeten kaiserlichen Polizei: „Das ist sie.“
Sie hatte nur noch einen weiteren Blick für den Leichnam, warf nur noch einen Blick auf die armlosen Schultern und das in dem Herzen des Körpers steckende Messer – ein Messer, das mit dem identisch war, das sie jetzt in einer Scheide an der linken Hüfte trug.
Was die vier Posten auf der Rampe zu bedeuten hatten, war dem Dieb jetzt nur allzu klar. Shey hatte sie dort aufgestellt. Andere standen unzweifelhaft hinter ihnen.
Miles’ „Eskimo-Psychi“ mußte folglich Shey sein – und der kleine Mann hatte mit tierischer Verschlagenheit seit der Ankunft der Phobos auf dem Mond an Bord des Raumschiffes auf Alar gewartet.
Aber anstatt sich gefangen zu fühlen, kam sich der Dieb nur beschwingt vor. Zumindest hatte er jetzt vor dem Sterben Gelegenheit, Shey zu bestrafen.
Die von Shey diesmal getroffenen Vorkehrungen hätten zweifellos zur Ergreifung eines gewöhnlichen Flüchtlings ausgereicht, aber das gleiche galt für alle anderen Fallen, die man Alar gestellt hatte. Das Wolfsrudel ging noch immer von der Annahme aus, daß auf Menschen anwendbare Methoden, nur vielleicht verstärkt und weiter ausgebaut, auch auf ihn anwendbar waren. Er war jetzt der Überzeugung, daß sie von falschen Voraussetzungen ausgingen.
Das Bild von Keiris’ übernatürlicher Schlankheit zog an seinem inneren Auge vorüber. Ja, die Zeit zur Bestrafung Sheys war gekommen. Sein Eid als Dieb hinderte ihn daran, den Psychologen umzubringen, aber die Gerechtigkeit erlaubte andere Abhilfen …
Er wandte sich langsam um und bereitete sich geistig auf die kommende Lichtexplosion vor.
„Sehen Sie diesen Finger, Shey?“ Er streckte den rechten Zeigefinger so aus, daß er zwischen seinen Augen und denen des Psychologen eine Linie bildete.
In einer reinen Reflexhandlung richteten sich Sheys Pupillen auf den Finger. Sein Hals zuckte unmerklich, als ein enggebündeltes „X“ aus blauweißem Licht aus Alars Augen in die seinen schoß.
Die nächsten fünf Sekunden würden zeigen, ob der gewagte Versuch des Diebes, den anderen durch die Überreizung der Sehnerven zu hypnotisieren, geglückt war.
„Ich bin Dr. Talbot vom Toynbee-Institut“, flüsterte er hastig. „Sie sind der neue Psychi für das Solarion Neun. Wenn wir uns den Posten auf der Rampe nähern, sagen Sie ihnen, daß alles in Ordnung ist, und fordern Sie sie auf, uns sofort die Ausrüstung hereinzubringen.“ Shey blinzelte ihn an.
Würde es wirklich funktionieren? Hatte er etwa auf verrückte Weise zu sehr auf die eigenen Fähigkeiten vertraut?
Der Dieb drehte sich um und schritt rasch auf die Rampe und die aufmerksamen kaiserlichen Polizisten zu. Hinter ihm ertönte das Trampeln laufender Füße.
„Halt!“ rief Shey und eilte mit seinen vier Posten herbei.
Alar biß sich verzagt auf die Lippen. Offenkundig hatte er das Spiel verloren. Wenn ihn Shey auf der Stelle töten wollte, mußte er versuchen, an den Fechtern auf der Rampe vorbei ins Solarion durchzubrechen. Das dabei entstehende Durcheinander würde ihm vielleicht Gelegenheit zur Flucht bieten. Unzweifelhaft würde sich Miles nicht tatenlos Sheys gewaltsamer Invasion unterwerfen.
„Tut dem Mann nichts!“ rief Shey. „Er
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