Der Mann ohne Vergangenheit
Halten Sie mich für schwerhörig?“ Er nippte gelassen an seinem Wein.
Ungläubige Überraschung zeigte sich im Gesicht des Psychologen. „Sie bilden sich ein, ich hätte mich wiederholt. Ich erinnere mich ganz genau …“
„Natürlich, natürlich. Zweifellos habe ich Sie mißverstanden.“ Alar hob entschuldigend leicht die Schultern. „Jedoch“, stieß er nach, „angenommen, Sie hätten sich wiederholt und es dann abgeleugnet. Bei einem Patient würden Sie eine Fixierung auf Belanglosigkeit als Anzeichen von Paranoia diagnostizieren, denen später Einbildungen von Verfolgungswahn folgen würde.
Bei Ihnen braucht man an so etwas kaum zu denken. Wenn es überhaupt stattfand, handelte es sich wahrscheinlich um ein bloßes Versehen. Ein paar Tage in einer solchen Station reichen aus, um beinahe jeden durcheinanderzubringen.“ Er stellte das Weinglas sacht auf den Tisch. „Hat in letzter Zeit niemand in Ihrem Zimmer herumgestöbert?“
Am Tag zuvor hatte er sich in Sheys Kabine geschlichen und jeden frei herumliegenden Gegenstand um 180 Grad gedreht.
Shey kicherte nervös. Endlich sagte er: „Gewiß nicht.“
„Dann braucht man sich nicht den Kopf zu zerbrechen.“
Alar tätschelte freundlich seinen Spitzbart. „Wenn wir schon dabei sind, könnten Sie mir etwas verraten. Als Toynbeeist hat es mich schon immer interessiert, wie man feststellt, ob ein anderer normal oder wahnsinnig ist. Ihr Psychologen müßt ja hieb- und stichfeste Tests für die Bestimmung der geistigen Gesundheit haben.“
Shey schaute ihn über den Tisch hinweg aus zusammengekniffenen Augen an, dann gluckste er. „Ach, geistige Gesundheit – nein, es gibt keinen einfachen Lehrbuchtest dafür, aber ich habe ein paar Projektionsdias, die die motorische und geistige Integration eines Menschen messen. Eine solche Messung ist natürlich für die Frage der geistigen Gesundheit nicht ohne Belang, zumindest nicht der Gesundheit, wie ich sie verstehe. Möchten Sie sich vielleicht mit mir zusammen ein paar solche Tests ansehen?“
Alar nickte höflich. Shey, das wußte er, wollte die Dias mehr aus dem Grunde vorführen, um sich selbst Sicherheit zu verschaffen, als um seinen Gast zu unterhalten.
Dem Psychologen stand der größte Schock seines Lebens bevor.
Shey baute rasch den Stereographen und den Drei-D-Würfelschirm auf. „Fangen wir mit ein paar interessanten Labyrinth-Dias an“, zirpte er und schaltete die von einem Haken an der Decke herabhängende Lampe aus. „Die Fähigkeit, Labyrinthe zu lösen, hängt eng mit der Analyse unserer alltäglichen Probleme zusammen. Der unschlüssige Labyrinth-Löser löst seine Schwierigkeiten nach und nach, und es mangelt ihm an der zerebralen Integration, die die Führungskräfte auszeichnet.
Bemerkenswert ist die Feststellung, daß der Schizophrene auch nach wiederholten Versuchen lediglich die einfachsten Labyrinth-Beispiele lösen kann. Hier haben wir das erste und einfachste. Weiße Ratten lösen es – natürlich in richtigen Labyrinthen, mit aufgestellten Wänden – nach drei oder vier Durchgängen. Ein fünfjähriges Kind, das es so sieht wie wir hier, erfaßt es nach rund dreißig Sekunden. Erwachsene erfassen es auf einen Blick.“
„Ganz klar“, stimmte Alar kalt zu und projizierte eine falsche Öffnung auf die äußere Labyrinthbegrenzung und verdeckte die wirkliche mit einem Stück falscher Grenze.
Shey rutschte unbehaglich hin und her, hielt aber sein Unvermögen, die Labyrinthaufgabe zu lösen, für eine vorübergehende Geistesschwäche. Er wechselte die Dias.
„Wie groß ist die durchschnittliche Lösungszeit bei der nächsten Aufgabe?“ fragte Alar.
„Zehn Sekunden.“
Der Dieb ließ das zweite und dritte Dia ohne Lichtveränderung vorbeigehen. Sheys Erleichterung war selbst im Dunkeln unverkennbar.
Beim vierten Diapositiv öffnete und blockierte Alar abwechselnd verschiedene Durchgänge des Labyrinths, und er wußte, daß sich der neben dem Projektor stehende Shey die Augen rieb. Der kleine Psychologe seufzte dankbar, als sein Gast anregte, die Labyrinth-Reihe bleibenzulassen und etwas anderes zu versuchen.
Der Dieb lächelte.
„Unsere zweite Diapositiv-Reihe, Dr. Talbot, zeigt nebeneinander einen Kreis und eine Ellipse. Auf jedem nachfolgenden Dia – insgesamt gibt es zwölf – wird die Ellipse immer kreisförmiger. Personen von feinstem visuellen Unterscheidungsvermögen können die Unterschiede auf allen zwölf Abbildungen wahrnehmen. Hunde entdecken
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