Der Mann schlaeft
funktionieren nicht mehr. Das verkrümmte Laufen, das Starren auf Betonplatten und Häuserwände funktionieren nicht mehr, ich kann mich nicht mehrkonzentrieren, beginne mich zu beobachten, und was ich sehe, heißt: Trauernde Frau schaut den Boden an. Mein Unglück wird zur Darstellung, und ich weiß nicht, was an seine Stelle treten soll. Da ich nicht jeden Tag tote Schwule finde, brauche ich eine kurze Pause, ehe ich meinen komplett sinnlosen Wandertag auf der Insel fortzusetzen imstande bin.
In der Wohnung meines Gastgebers scheint es immer dunkel zu sein, angenehm entfallen die Tageszeiten und jeder Anspruch, sich zu ihnen verhalten zu müssen.
Die Wohnung des Masseurs ist schon lange tot und schwebt in Formaldehyd durch den Weltraum, während er selber in einem Sessel sitzt, mit einem Handtuch um den Hals, das trägt man so in seiner Zunft. Er schaut aus dem Fenster mit einer erstaunlichen Konzentration. In den letzten Wochen habe ich jedes Gefühl für Peinlichkeiten verloren. Habe ich es früher befremdlich gefunden, zu sehen, wie jeder so mit seiner Einsamkeit beschäftigt ist, dass er nichts anderes mehr wahrnehmen kann als sich selbst, in einem Eisloch versinkend, spüre ich jetzt nur die Müdigkeit meiner Füße und versuche zu verstehen, was der Masseur so angestrengt betrachtet, denn draußen sehe ich nur mehr zwei große, von Schlingpflanzen überzogene Bäume, deren Namen mir unbekannt sind.
»Da unten, zwischen den Bäumen, liegt meine Frau, wussten Sie das?« fragt der Masseur, und ich weiß das natürlich nicht.
»Wenigstens haben Sie eine Ahnung davon, wo sich Ihre Frau aufhält«, antworte ich, ohne dass ich seine Bemerkung wirklich als Frage verstanden hätte, denn wie es scheint, redet der alte Mann nur zu sich, und ich bin zufällig anwesend.
»Ich mache jeden Tag, den sie nicht da ist, einen Schnitt inmein Bein«, fährt er fort und zieht sein Hosenbein hoch. Wie die Striche an der Wand einer Gefängniszelle sieht es aus, vernarbte Schnitte auf gelblicher Haut. Diese Information lässt mich ein wenig ratlos zurück.
Das Bild des gelblichen Beines mit den vernarbten Schnitten wird mich wohl länger begleiten.
»Sie können noch hoffen. Ich kann nur warten, bis meine Zeit hier um ist«, sagt der Masseur und zeigt auf den Platz zwischen den Bäumen. »Was auch immer da ist, ich werde mich dazulegen.«
In diesem Moment wird mir klar, dass ich momentan wirklich nicht ganz bei mir bin, denn die Situation müsste mir befremdlich vorkommen, die Geständnisse, die für den Stand unserer Beziehung unangemessen sind, müssten mich abstoßen. Ich nicke nur und denke: Ist klar, dazulegen.
»Das war immer der Höhepunkt des Tages«, fährt der Masseur in seinem Monolog fort, »abends mit ihr zu Bett zu gehen.« Ich nicke, was der Masseur nicht sehen kann, weil er weiter seine Frau beobachtet. Ich weiß genau, wovon er redet. Ich erinnere mich zu klar an die Nächte. Wenn er gewaschen neben mir lag, keine Ablenkung auf der Welt, nur Tiere draußen, die noch Karten spielten, und ich löste mich auf, kroch in ihn, war nichts mehr außer Atem und Geborgensein. Dass ich weine, merke ich erst, als die Tränen in meinen Mund laufen. Der Schmerz fühlt sich an wie ein Herzinfarkt, wobei ich gestehen muss, dass ich noch nicht so viele erlebt habe. Sag doch was, Masseur, hol mich zurück.
»Das ist der schlimmste Moment jetzt, irgendwann zu Bett gehen zu müssen. Zu wissen, es ist leer, es ist da niemand, es ist wie allein auf einem Boot ohne Ruder auf hoher See. Undich liege, und es schaukelt und ich kann nicht schlafen, weil ich Angst habe, zu erwachen, und wieder liegt ein Tag vor mir.«
»Haben Sie versucht, sich umzubringen?« frage ich. Der Masseur bewegt leicht seinen Kopf. »Ich habe es versucht. Ich habe ein paar Schnitte versucht und musste einsehen, dass der Instinkt stärker ist als mein Wille. Also halte ich durch. Es kann ja so nicht mehr lange weitergehen.«
Es scheint, dass die Wurzeln des Baumes in die Wohnung gedrungen sind und allen Sauerstoff verbraucht haben, wie vakuumverpackt fühle ich mich, alles, was lebendig war, ausgesaugt.
Es ist erstaunlich, wie wenig Behaglichkeit sich Menschen geben können, selbst wenn sie es sehr wollen. Ich würde gerne mit dem Masseur unter einer der Wurzeln liegen, die inzwischen bis zum Badezimmer reichen, ich würde ihn kraulen und er mich, wir würden mit leiser Stimme reden und lachen, doch es ist uns nicht gegeben, Fremde festzuhalten. Wir
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