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Der Marathon-Killer: Thriller

Titel: Der Marathon-Killer: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Stock , Andreas Helweg
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sich, den Gedanken zu verdrängen, doch unwillkürlich sah er das Bild von Sebastian vor seinem inneren Auge, wie er vom Boden des Beckens zu ihm heraufstarrte.
    Als er sich wieder dem Tor zuwandte, bemerkte er jemanden, der ihn beobachtete, eine Gestalt unter dem Niembaum auf der anderen Seite des Rasens, wo früher immer der Generator seinen schwarzen Rauch ausgespien hatte. Er ging über das braune ungepflegte Gras und kam gerade rechtzeitig bei den Bäumen an, um einen Jungen zu sehen, der über die Mauer kletterte und sich in den Nachbargarten fallen ließ.
    »Hey, warte«, rief Marchant und kramte nach den richtigen Wörtern auf Hindi. »Suno, Kya Chandar abhi bhi yahan rahta hai?« Wohnt Chandar hier vielleicht noch?
    Der Name Chandar schien Wirkung zu zeigen, selbst falls das Hindi nicht ausgereicht hatte. Der schwarze Haarschopf des Jungen schob sich kurz darauf wieder über die Ziegelmauer.
    »Chandar Bahadur?«, fragte er vorsichtig, immer noch halb hinter der Mauer versteckt.
    »Tikke«, sagte Marchant und lächelte. Inzwischen war das Gesicht des Jungen vollständig aufgetaucht, und am Glitzern der Augen erkannte Marchant, dass er Chandars Sohn vor sich hatte.
    Zehn Minuten später saß Marchant in der beengten Dienstbotenunterkunft des Nachbarhauses und aß Chapatis
und Dhal mit Chandar, seiner Frau - die sich in seiner Gegenwart nicht setzte und den Kopf mit einem Tuch bedeckte - sowie ihrem einzigen Kind, Bhim. Chandars Haar war so kohlrabenschwarz wie damals, doch die Müdigkeit in seinen Augen verriet, dass zwanzig Jahre ins Land gezogen waren. Sein Englisch war immer noch grauenhaft (das Gleiche behauptete er auch von Marchants Hindi), aber die Chapatis schmeckten gut wie eh und je, und bald schwelgten sie in Erinnerungen über die Baby-Kobra, die Chandar im Komposthaufen gefangen hatte, über die Fahrradfahrten auf dem Lenker des uralten Hero-Drahtesels im Garten und über das Weihnachtsfest, als Chandar zu viel Bagpiper getrunken und vergessen hatte, den Truthahn zu braten.
    Marchant fragte nach dem alten Haus seiner Familie nebenan, das einst zu den schönsten in Chattarpur gehört hatte, einem Dorf zwölf Kilometer südlich von Neu-Delhi. Seine Mutter hatte darauf bestanden, nicht auf dem Gelände des Hochkommissariats zu wohnen, weil die Luftverschmutzung in der Innenstadt so stark sei, obwohl das für seinen Vater täglich eine gefährliche Hin- und Rückfahrt in einem Hindustan Ambassador bedeutet hatte. Außerdem wusste er, dass es niemals zu dieser schicksalhaften Fahrt von Chanakyapuri gekommen wäre, wenn sie auf dem Botschaftsgelände gewohnt hätten, wie alle anderen auch.
    Laut Bhim, der die Worte seines Vaters in nahezu perfektes Englisch übersetzte, hatte das Haus nach dem Auszug der Marchants ein Jahr leer gestanden, bis der einzige Sohn des Besitzers nach dem IT-Studium aus Kalifornien zurückgekehrt und mit einem anderen Mann eingezogen
war. Der Besitzer, ein Colonel im Ruhestand, hatte herausgefunden, dass sein verlorener Sohn schwul war, und ihn mitsamt Freund rausgeschmissen. Seitdem stand das Haus als Symbol der Familienschande leer. Der Junge grinste, als er den letzten Teil der Erzählung übersetzte. Chandar war in Chattarpur von einer Stelle zur anderen gewechselt und hatte überall sein berühmtes Chicken-Curry gekocht, und jetzt arbeitete er für eine junge niederländische Familie, die zufällig gerade in das Haus nebenan gezogen war.
    »Aber mein Vater sagt, er wird immer gern an die Zeit zurückdenken, als er für Marchant Sahib gearbeitet hat«, sagte Bhim. Das Gespräch stockte, während sich Marchant in dem winzigen Zimmer umschaute, dem Klappern des Wasserkühlers am Fenster lauschte und der Bollywood-Musik, die aus dem riesigen Radiorekorder in der Ecke dröhnte. »Lebt der Sir noch?«, fragte Chandar, und das Mitgefühl in seiner Stimme verriet, dass er die Antwort schon wusste.
    »Nein, er lebt nicht mehr«, erwiderte Marchant. »Er ist vor zwei Monaten gestorben.«
    Das brauchte Bhim nicht zu übersetzen. Chandar neigte für ein paar Augenblicke den Kopf und starrte auf den staubigen Betonboden, ehe er lebhaft auf seine Frau einsprach, die zum Charpoy hinüberging und einen Metallkoffer darunter hervorzog. Marchant beobachtete, wie sie den Deckel öffnete und im Inneren etwas suchte. Kurz darauf reichte sie Chandar einen handgeschriebenen Brief, den dieser einen Moment lang anschaute, als würde er ihn lesen, und dann an seinen Sohn weiterreichte.
    »Mein

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