Der Marshal ist eine Lady
empor, über sein Gesicht hinweg. Wieder schrie er, diesmal so schrill und durchdringend wie sie es von ihm bereits am Rezeptionstresen gehört hatte. Polternd landete die Blankwaffe hinter ihm auf dem Fußboden. Eugenia sprang über den Mann hinweg und erreichte im nächsten Augenblick mit beiden Füßen den Teppich.
Norrish schrie noch immer, lag nach wie vor auf dem Bauch. Eugenias Blick erfasste den Revolverkolben, der aus dem Holster des Mannes ragte. Reaktionsschnell packte sie zu und bekam den Sechsschüsser frei. Sie schnappte sich auch das Bowiemesser und vergewisserte sich mit zwei schnellen Schritten, dass ihr Colt und der Derringer noch vor dem Sessel lagen, in dem Norrish gesessen hatte.
Zwischen den Sesseln, am Fußende des Betts, baute sie sich auf. Den erbeuteten Revolver hielt sie schussbereit in der Rechten, das Bowiemesser in der Linken. Ihre Nacktheit störte sie nicht, denn sie wusste, dass ihr Widersacher jegliches Verlangen nach ihr verloren hatte.
Seine Schmerzensschreie waren leiser geworden, hörten sich nun an wie das Greinen eines Kindes. Er lag auf dem Bett und rührte sich nicht. Es hatte den Anschein, als ob alle Kraft aus ihm gewichen war.
»Verschwinde«, sagte Eugenia eisig. »Und lass dich nie wieder in meiner Nähe blicken. Eine nächste Begegnung mit mir wirst du nicht überleben. Das schwöre ich dir.«
Er wurde still und stemmte den Oberkörper hoch. Dann, nach einem Luftholen, richtete er sich unter größter Mühe neben dem Bett auf. Ein blutiger Schnitt zog sich quer von der rechten Hälfte seiner Stirn über den Nasenrücken und die linke Wange bis hinunter zum Kinn.
»Warum erledigst du es nicht gleich jetzt?«, fragte er ächzend. »Glaubst du im Ernst, dass ich es nächstes Mal so weit kommen lasse wie heute?«
Eugenia lächelte. »Sagen wir so: Du wirst es zumindest versuchen. Aber bevor das so weit ist, sollst du deinem Freund Carlton Harris etwas ausrichten. Deshalb lasse ich dich am Leben. Sag ihm, dass du deine schöne neue Gesichtsnarbe der Frau zu verdanken hast, die auch ihn zur Strecke bringen wird.«
»Carlton Harris?«, echote Norrish. »Kenne ich nicht.«
»Macht nichts«, antwortete Eugenia gleichmütig. »Er wird die Botschaft schon erhalten. Wollen wir wetten?« Sie machte eine Kopfbewegung zur Tür hin. »Und jetzt verschwinde, bevor ich es mir anders überlege.«
Er stolperte los. Tödlicher Hass lag in dem Blick, den er ihr zuwarf, bevor er draußen war. Eugenia öffnete die Tür noch einmal und vergewisserte sich, dass er tatsächlich die Treppe hinunter verschwand. Sie wusste, dass sie sich einen Todfeind geschaffen hatte. Doch das war die Sache wert, wenn es ihr dadurch gelang, Harris anzulocken.
Sie verriegelte die Tür sorgfältig von innen. Noch hatte sie Zeit, sich auf ihre Rolle als Lockvogel vorzubereiten. So oder so blieb die Frage, ob Carlton Harris den Köder überhaupt annehmen würde.
***
Abends, schon vor Einbruch der Dunkelheit, wurde es empfindlich kühl. Das machte den Oktober in Wyoming zu einer ungemütlichen Jahreszeit, auch wenn es tagsüber noch sonnig war.
Carlton Harris legte Holzscheite nach, versenkte sich wieder in den mit Decken behängten alten Sessel und streckte die Beine dem Feuer entgegen. Er hatte sich diesen Kamin aus Stein bauen lassen. Außerdem gab es noch zwei weitere Feuerstellen im Camp, dem er dem Namen »New Fort Kearny« gegeben hatte. Es handelte sich um zwei riesige Kanonenöfen, die sie aus einem abgebrannten Saloon in Deadwood, Dakota, abtransportiert hatten. Die Männer hielten sich abends im Gemeinschaftsraum auf, wo einer der Kanonenöfen stand und bullige Hitze ausstrahlte. Der zweite Ofen war im Bordell am Rand des Camps aufgebaut worden, wo demzufolge ebenfalls gemütliche Wärme herrschte.
Alle übrigen Hütten waren unbeheizt. Zum Schlafen verkrochen sich die Bandenmitglieder unter Decken in ihren kalten Hütten. Wer es sich leisten konnte, hatte dann noch eine der Huren dabei, die ihn zusätzlich wärmte.
Harris genoss das Privileg der Wärme und der Behaglichkeit in seiner Hütte. Er teilte sie mit keinem anderen, außer mit einer oder zwei der käuflichen Ladys, die auch er gelegentlich zu sich holte. Stets handelte es sich dann um Frauen, die neu im Fort eingetroffen waren. Erst wenn er die »frischen Ladys«, wie er sie nannte, ausgiebig genossen hatte, überließ er sie dem »gemeinen Volk«. Diesen Ausdruck für seine Untergebenen benutzte er allerdings nur für sich selbst,
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