Der maskierte Tod
mir. Ich wagte es nicht, die Aufmerksamkeit abzuwenden. Alles in mir balancierte auf einem schmalen Grat zwischen Ärger und Vernunft. Wenn ich mich zu weit in eine Richtung lehnte ...
Tante Fonteyn zwinkerte rasch mehrmals hintereinander. Sie schien kurzatmig zu sein, oder hatte irgendwie vergessen, zu atmen.
»Das werden Sie nicht tun«, wiederholte ich sorgfältig. »Sie werden überhaupt nichts unternehmen. Die Angelegenheit endet hier und jetzt. Es wird nicht mehr darüber gesprochen. Keine Veränderungen, welcher Art auch immer, werden unternommen. Es wird keine weitere Anklage mehr erhoben. Verstehen Sie?«
Sie antwortete nicht, aber in ihren Augen las ich die Antwort, die ich hören wollte. Als ich sie aus meinem Einfluss entlassen hatte, las ich noch etwas anderes in ihren Augen, ein ausdrucksloser Blick, welchen ich erwartet haben sollte, der mir aber dennoch einen Stich versetzte.
Sie hatte Angst. Vor mir.
Schon einen Moment später hatte sie sich wieder erholt und ihre Angst war verflogen. Doch es war zu spät. Die Wahrheit war enthüllt worden, und sie konnte ihren angstvollen Blick nicht mehr zurücknehmen. Ich war nicht etwa stolz darauf, dieses Gefühl in ihr erzeugt zu haben, aber ich konnte nicht anders, als zu denken, dass sie dies mehr als verdiente, die abscheuliche alte Krähe.
»Jonathan.«
Elizabeth stand neben mir und berührte meinen Arm. Sie hatte genau gesehen und war sich dessen bewusst, was ich soeben getan hatte.
»Es ist in Ordnung. Es ist vorbei. Wir werden gehen.«
Tante Fonteyn nahm zum letzten Mal ihre Kräfte zusammen. »Und ihr werdet niemals zurückkehren, so lange ich lebe.«
Dieser Drohung mangelte es deutlich an Macht und Schrecken. So bald würde ich diesen Kerker und den Drachen, der ihn bewachte, nicht wiedersehen wollen.
»Oliver«, fauchte sie. »Bringe diese beiden Kreaturen aus dem Hause. Sofort. Sie gehören nicht länger zu dieser Familie.«
Oliver machte keine Anstalten, dem Befehl Folge zu leisten. Er war blass wie dünner Rauch und wirkte ebenso zerbrechlich, aber er bewegte nicht einmal einen Fuß.
»Tue es, Junge! Bist du taub?«
»Nein«, entgegnete er, und es lag genügend Nachdruck in seiner Stimme, um als Antwort auf beide Fragen zu gelten.
Sie wandte sich ihm zu und bemerkte im Nu, dass die Meuterei sich ausgebreitet hatte. »Weißt du, was du da sagst?«
»Ja, und es ist allerhöchste Zeit, dass ich es sage. Es ist bereits so weit, dass es in mir zu vieles gibt, als dass ich dies alles jetzt aussprechen könnte. Sie flößen mir Grausen ein und sorgen dafür, dass ich mich schäme, Ihr Sohn zu sein, aber damit ist jetzt Schluss. Ich werde mit den beiden gehen und nicht zurück- kommen.«
Er wandte sich zur Tür.
»Oliver!«
Und ging darauf zu.
»Oliver!» Aber es war kein Hinweis auf Pein oder Bedauern in ihrer Stimme zu erkennen, nur Zorn.
Elizabeth und ich beeilten uns, ihm zu folgen. Ich schloss die Tür hinter uns, was Tante Fonteyn mitten in ihrem Gebrüll zum Verstummen brachte.
Die Bediensteten, welche uns belauscht hatten, waren soeben im Begriff zu verschwinden, abgesehen von dem Lakaien, welcher uns hereingelassen hatte. Ich sagte zu ihm, er solle unsere Sachen holen, was er auch tat, wobei er sich mit erfreulich hoher Geschwindigkeit bewegte.
»Nun, jetzt ist es geschehen«, keuchte Oliver. Er zitterte von Kopf bis Fuß.
»Du kannst dich entschuldigen, wenn sie sich wieder beruhigt hat«, meinte ich. »Es gibt keinen Grund, dass du dich selbst enterbst, nur weil ich –«
»Mich entschuldigen? Ich will verdammt sein, bevor ich mich bei dieser alten Hexe entschuldige. Mein Gott, all die Jahre, die ich mir dies gefallen ließ ... Nun, ich konnte es nicht länger ertragen, und ich werde es auch nicht mehr.« Er zog seinen Umhang an, wobei seine Arme ruckartige Bewegungen in alle Himmelsrichtungen vollführten.
»Dann freue ich mich für dich«, sagte Elizabeth und zog sich die Kapuze ihres Mantels über den Kopf. »Lasst uns aus diesem verfluchten Haufen alter Knochen verschwinden.«
»Ja!«, stimmte er zu, seine Stimme unnatürlich hoch und angespannt.
Der Lakai eilte voran und öffnete beide Flügel der großen Doppeltür am Haupteingang. Elizabeth lief an mir vorbei in die Winternacht, dann folgte Oliver, beide in großer Eile, welche ich ihnen nicht verdenken konnte. Ich warf einen kurzen Blick zurück zur Salontür, in der Erwartung, dass Tante Fonteyn herauskäme, um mit einer weiteren Attacke zu beginnen, aber
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