Der Matarese-Bund
legte den Kopf zurück und starrte zur Decke, starrte auf die tanzenden Schatten, die die Flammen im Kamin dort hinzauberten. »Guiderone. Das ist von dem italienischen Wort ›guida‹ abgeleitet. Ein Führer.«
»Oder Hirte«, sagte Goldman.
Brays Kopf zuckte nach vorne, seine Augen weiteten sich, starrten den Anwalt an. »Was haben Sie gesagt?«
Goldman begriff die plötzliche Erregung seines Gastes nicht. »Das habe nicht ich gesagt, sondern er. Vor sieben oder acht Monaten in der UNO.«
»Den Vereinten Nationen?«
»Ja. Guiderone war aufgefordert worden, zur Generalversammlung zu sprechen; übrigens eine einstimmige Einladung. Haben Sie das nicht gehört? Seine Rede wurde in die ganze Welt ausgestrahlt. Er hat sie sogar für Radio-International in Französisch und Italienisch auf Band gesprochen.«
»Das habe ich nicht gehört.«
»Das ewige Problem der UNO. Niemand hört auf sie.«
»Was hat er denn gesagt?«
»In etwa das gleiche, was Sie gerade sagten. Daß sein Name seine Wurzeln in dem Wort ›guida‹ oder Führer hätte. Und daß er immer so von sich gedacht hätte. Als ein einfacher Hirte, der seine Herde lenkte, immer eingedenk der Felshänge und der Ströme und Bäche, die er nicht überqueren konnte… Etwas von der Art. Er plädierte für internationale Beziehungen, die auf der Gegenseitigkeit materieller Bedürfnisse beruhten und behauptete, solche Beziehungen würden zu einer höheren Moral führen. Vom philosophischen Standpunkt aus war das etwas seltsam, aber verdammt wirkungsvoll. So wirkungsvoll, daß es auf der Tagesordnung dieser Sitzung eine Resolution gibt, ihn zum Mitglied des Wirtschaftsrates der UN zu machen. Das ist übrigens nicht nur ein Titel. Bei seiner Erfahrung und den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, gibt es auf der ganzen Welt keine Regierung, die nicht gut zuhören würde, wenn er spricht. Er wird ein verdammt mächtiger amicus curiae sein.«
»Haben Sie diese Rede gehört?«
»Sicher«, lachte der Anwalt. »In Boston war das praktisch Pflicht; wenn man die Rede nicht hörte, wurde man von der Abonnentenliste des Globe gestrichen. Wir haben das Ganze im Fernsehen miterlebt.«
»Wie klang die Rede?«
Goldman sah seine Frau an. »Nun, er ist ein sehr alter Mann. Immer noch agil, aber trotzdem alt. Wie würdest du ihn beschreiben, Liebste?«
»Genau wie du«, sagte Anne. »Ein alter Mann. Nicht groß, aber höchst eindrucksvoll. Man spürt, daß er gewöhnt ist, daß man auf ihn hört. Aber an eines erinnere ich mich – die Stimme. Sie war hoch und vielleicht ein wenig atemlos, aber er sprach ungewöhnlich klar, jeder Satz sehr präzise, durchdringend. Ganz kalt, würde ich sagen. Man konnte jedes Wort hören, das er sagte.«
Scofield schloß die Augen und dachte an eine blinde Frau in den Bergen über Porto Vecchio auf Korsika, die an der Skala eines Radiogerätes drehte und eine Stimme hörte, grausamer als der Wind.
Er hatte den Hirtenjungen gefunden.
33
Er hatte ihn gefunden!
Toni, ich habe ihn gefunden! Bleib am Leben! Laß nicht zu, daß sie dich vernichten. Sie werden deinen Körper nicht töten; nein, sie werden versuchen, deinen Geist zu töten. Laß es nicht zu. Sie werden versuchen, in deine Gedanken einzudringen, so zu denken wie du. Laß es nicht zu. Sie werden versuchen, dich zu verändern, die Vorgänge zu verändern, die dich zu dem machen, was du bist. Sie haben keine Wahl, meine Geliebte. Eine Geisel muß programmiert werden, auch dann noch, wenn die Falle zugeschnappt ist; Fachleute verstehen das. Nichts ist so extrem, daß es nicht in Betracht gezogen wird. Du mußt irgend etwas in dir finden – um meinetwillen. Denn, siehst du, meine Liebe, ich habe etwas gefunden. Ich habe ihn gefunden. Den Hirtenjungen! Das ist eine Waffe. Ich brauche Zeit, um die Waffe zu benutzen. Bleib am Leben. Behalte deinen Verstand!
Taleniekov, der Feind, den zu hassen ich nicht mehr fertigbringe. Wenn Sie tot sind, dann habe ich keine andere Wahl, als mich abzuwenden, im Wissen, alleine zu sein. Wenn Sie noch leben, dann atmen Sie weiter. Ich verspreche nichts; es gibt eigentlich keine Hoffnung. Aber wir haben jetzt etwas, was wir nie zuvor hatten. Wir haben ihn. Wir wissen, wer der Hirtenjunge ist. Das Netz hat jetzt Form und Gestalt, denn es umspannt die ganze Welt. Scozzi-Paravacini, Veltrup, TransCommunications… und hundert andere Firmen dazwischen. Alle zusammengefügt von dem Hirtenjungen, alle von einem Alabasterturm aus gelenkt, der mit tausend
Weitere Kostenlose Bücher