Der Memory Code
lass uns gehen. Die lässt uns sowieso nicht rein, und falls die Polizei wieder anrücken sollte, muss sie uns hier ja nicht unbedingt finden.”
“Das ist mir egal! Hier stimmt was nicht, Malachai, und ich will wissen, was! Stell dir mal vor …” Er mochte nicht daran denken, geschweige denn seinen Gedanken auszusprechen, doch er befürchtete das Schlimmste.
Sie traten hinaus auf den Bürgersteig. Am Straßenrand parkte wieder die graue Limousine. Hatte sie da auch schon gestanden, als sie angekommen waren? Josh war sich nicht sicher.
“Augenblick mal! Siehst du den Wagen da? Mit dem hat Tatti Gabriella beschatten lassen, und zwar schon seit dem Überfall auf Rudolfo. Als ich gestern Abend ging, stand die Karre auch schon da.”
“Falls Tatti weiß, wo sie ist, und es uns trotzdem nicht sagt, dann will er uns eine Falle stellen.”
“Oder sehen, wer zu ihrer Wohnung kommt”, vermutete Josh. “Aus demselben Grund, aus dem wir hier sind.”
“Na, dann wollen wir ihm lieber nicht noch zusätzlich Munition für den Verdacht bieten, wir könnten was mit dem Grabraub zu tun haben”, mahnte Malachai. “Das hätte uns außerdem gerade noch gefehlt. Er ist nämlich drauf und dran, uns grünes Licht für die Ausreise zu geben. Also, nichts wie weg hier.”
Zuvor, nach der erfolglosen Befragung während des Frühstücks im Hotel, hatte der Commissario die beiden überrascht, indem er Josh den Reisepass zurückgab, verbunden mit dem Hinweis, es stehe ihnen beiden frei, das Land zu verlassen. Er hoffe aber, so Tatti, Josh werde sich bereit erklären, bei einem eventuellen Prozess auszusagen. Malachai hatte unverzüglich die einzigen freien Flüge nach New York gebucht, die kurzfristig noch zu haben waren, allerdings in zwei unterschiedlichen Maschinen.
“Tatti wird sich das mit der Ausreisegenehmigung in null Komma nichts anders überlegen, wenn er meint, wir hielten Informationen zurück oder wären mehr als nur harmlose Unbeteiligte”, bemerkte Malachai, während sie die Straße hinuntergingen.
“Flieg du ruhig nach Hause”, sagte Josh. “Ich bleibe noch. Zumindest so lange, bis ich weiß, wo Gabriella abgeblieben ist.”
“Wieso ist dir das denn so wichtig?”
“Vielleicht wurde sie ja auch an der Ausgrabung gesehen”, sagte Josh, ohne auf die Frage einzugehen. Denn er wusste selber nicht, wie die Antwort lautete.
“Josh? Was ist los?”
Sie waren an einer Kreuzung angelangt. Die Fußgängerampel zeigte Rot.
“Weiß ich auch nicht. Ich kann’s nicht erklären, ist nur so ein Gefühl …” Er unterbrach sich, zu verlegen, um das auszusprechen, was ihm gerade durch den Kopf gegangen war.
Malachai ahnte es offenbar. “Glaubst du, Gabriella ist Teil deiner Vergangenheit?”
Kein einziges Auto fuhr vorbei, kein Verkehrslärm war zu hören. Trotzdem konnte man Joshs Flüstern kaum verstehen. “Vielleicht.”
Sie stoppten ein Taxi und gaben dem Fahrer die Adresse der Ausgrabungsstätte. Während sie durch das Stadtzentrum fuhren und Josh die riesigen, vernarbten grauen Steinstümpfe sah, fügten sie sich vor seinem inneren Auge zu einem Bild von hünenhaften, stolz schimmernden Säulenreihen.
“Hier ganz in der Nähe wurde mein Bruder ermordet”, murmelte er tonlos, als sie das Kolosseum passierten.
“Dein Bruder? Umgebracht? Hier in Rom?”
Josh fühlte sich an gewisse Momente unmittelbar vor dem Einschlafen erinnert. Man ist noch gar nicht richtig hinübergedämmert, und trotzdem rutschen einem irgendwelche Wörter oder Satzfetzen heraus, als würde man schon träumen. Schlagartig wacht man auf und merkt, dass man Unsinn gebrabbelt hat. Genau so kam sich Josh jetzt vor.
“Ich habe nie einen Bruder gehabt.”
“Gerade eben hast du gesagt, dein Bruder sei nicht weit von hier ermordet worden.”
Josh konnte sich nicht auf Malachais Einwand konzentrieren. In seinem Kopf tobte ein Wirbelsturm aus Bildfetzen. “Augenblick mal, bitte.”
Der Flashback war mit solcher Geschwindigkeit über ihn hereingebrochen, dass er den Duft von Jasmin und Sandelholz gar nicht wahrgenommen hatte, aber tatsächlich, er lag in der Luft. Josh spürte, wie er in den Sog der Strömung geriet, obwohl der Augenblick nicht ungünstiger hätte sein können.
Du hast es nicht nötig, Opfer deiner Erinnerung zu sein! Du kannst sie beherrschen.
Aber wählen musste er so oder so: jetzt oder damals. Das ewige Hin und Her zwischen beiden Welten machte ihn krank. Schon spürte er die ersten leisen Anzeichen einer
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