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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Er beschloss, den Brief nicht zu lesen.
    ›Nun wird sie mir bestimmt nicht mehr schreiben‹, sagte er sich. ›Sie wird einsehen, dass es aus ist. Schließlich könnte sie meine Mutter sein; sie hätte vernünftiger sein sollen.‹
    Ein paar Stunden war ihm nicht ganz wohl zumute. Sein Verhalten war zweifellos richtig, aber ein gewisses Unbehagen wurde er doch nicht los. Miss Wilkinson indessen schrieb weder, noch tauchte sie, wie er törichterweise gefürchtet hatte, plötzlich in Paris auf, um ihn vor allen seinen Freunden lächerlich zu machen. Nach kurzer Zeit vergaß er sie ganz und gar.
    Unterdessen sagte er sich endgültig von seinen alten Göttern los. Das Erstaunen, mit dem er anfangs die Werke der Impressionisten betrachtet hatte, verwandelte sich in Bewunderung, und bald hörte er sich ebenso begeistert über Manet, Monet und Degas sprechen wie die Übrigen. Er kaufte sich eine Fotografie einer Zeichnung der Odalisque von Ingres und eine Fotografie der Olympia. Nebeneinander befestigte er sie an der Wand über seinem Waschtisch, so dass er ihre Schönheit während des Rasierens betrachten konnte. Er war nun davon überzeugt, dass es vor Monet keine Landschaftsmalerei gegeben hatte, und er fühlte einen echten Schauer, wenn er vor Rembrandts Jüngern von Emmaus oder Velázquez’ Dame mit der von Flöhen zerbissenen Nase stand. Das war nicht ihr wirklicher Name, aber bei Gravier wurde sie so genannt, um die Schönheit des Bildes zu betonen, ungeachtet der abstoßenden Absonderlichkeiten des Modells. Mit Ruskin, Burne-Jones und Watts legte er auch die Melone und die nette blau-weiß getupfte Binde beiseite, die er bei seiner Ankunft in Paris getragen hatte, und lief nun in einem weichen Hut mit breiter Krempe, einer flatternden schwarzen Krawatte und einem romantisch geschnittenen Cape herum. Er spazierte über den Boulevard du Montparnasse, als wäre er sein Leben lang hier gegangen, und brachte es durch Fleiß und Beharrlichkeit dazu, ohne Abscheu Absinth zu trinken. Er ließ sein Haar wachsen, und nur weil die Natur grausam ist und keine Rücksicht auf die sehnsüchtigen Wünsche der Jugend nimmt, musste er davon Abstand nehmen, sich einen Bart wachsen zu lassen.
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    Philip erkannte bald, dass der Geist, der seinen Freunden die Richtung wies, der Geist Cronshaws war. Von ihm hatte Lawson seine Paradoxa, und selbst Clutton, der nach Individualität strebte, bediente sich gewisser Ausdrucksformen, die er unbewusst von dem älteren Mann übernommen hatte. Seine Ideen waren es, die sie bei Tisch herausposaunten, und nach seinen Grundsätzen bildeten sie ihre Urteile. Sie entschädigten sich für den Respekt, mit dem sie ihn unwillkürlich behandelten, indem sie über seine Schwächen lachten und seine Laster beklagten.
    »Der arme alte Cronshaw wird nie etwas leisten«, sagten sie. »Ein hoffnungsloser Fall.«
    Sie hielten sich viel darauf zugute, die Einzigen zu sein, die sein Genie würdigten, und obgleich sie mit der Verachtung der Jugend für die Torheiten des Alters eine gewisse gönnerhafte Haltung ihm gegenüber einnahmen, betrachtete jeder von ihnen es als Auszeichnung, wenn er sich besonders wunderbar gezeigt hatte, als einer von ihnen allein bei ihm war. Cronshaw kam niemals zu Gravier. Seit vier Jahren lebte er in verkommenen Verhältnissen, mit einer Frau, die nur Lawson einmal gesehen hatte, in einer winzigen Wohnung im sechsten Stock eines der baufälligsten Häuser am Quai des Grands-Augustins. Lawson erzählte genüsslich von dem Schmutz, der Unordnung, dem Chaos, das dort herrschte.
    »Und der Gestank wirft einen um.«
    »Nicht beim Essen, Lawson«, bremste ihn einer der anderen.
    Trotzdem ließ er sich das Vergnügen nicht nehmen, in bildhaften Details die Gerüche zu beschreiben, die an seine Nase gedrungen waren. Mit einer grimmigen Freude am Realismus beschrieb er die Frau, die ihm die Tür geöffnet hatte. Sie war dunkel, klein und dick, ganz jung, mit schwarzem Haar, das immer unordentlich ins Gesicht hing. Sie trug eine schlampige Bluse und kein Korsett. Mit ihren roten Wangen, ihrem großen, sinnlichen Mund und ihren glänzenden, unzüchtigen Augen erinnerte sie an die Bohémienne von Frans Hals im Louvre. Ihr Auftreten hatte etwas herausfordernd Vulgäres, das amüsant war, aber zugleich abschreckte. Ein strubbeliges, ungewaschenes Baby spielte auf dem Fußboden. Es war bekannt, dass das Frauenzimmer Cronshaw mit den verkommensten Burschen des Quartiers betrog, und den naiven

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