Der Menschen Hoerigkeit
fort:
»Sie sind kein übler Kerl, aber Sie trinken nicht. Nüchternheit stört das Gespräch. Aber wenn ich von Gut und Böse rede…« Philip sah, dass er den Faden wiederaufnahm, »…so ist das eine konventionelle Art, mich auszudrücken. Ich messe diesen Worten keine Bedeutung bei. Ich weigere mich, für die menschlichen Handlungen eine Hierarchie zu erstellen und manchen einen Wert beizumessen und anderen einen üblen Ruf. Bezeichnungen wie Laster und Tugend haben keinen Sinn für mich. Ich erteile weder Lob noch Tadel, ich nehme hin. Ich bin das Maß aller Dinge. Ich bin das Zentrum der Welt.«
»Aber außer Ihnen gibt es doch noch andere Leute«, warf Philip ein.
»Ich spreche ausschließlich für mich. Die anderen kommen nur insofern in Betracht, als sie meine Aktivität einschränken. Auch um sie, um jeden Einzelnen, dreht sich die Welt, und jeder für sich ist das Zentrum der Welt. Und mein Recht über den Nächsten erstreckt sich nur so weit, wie meine Macht reicht. Was ich tun kann, ist der einzige Maßstab dafür, was ich tun darf. Weil wir gesellig sind, bilden wir eine Gesellschaft, und die Gesellschaft bleibt bestehen durch Gewalten, die Waffengewalt (also die Polizei) und die Gewalt der öffentlichen Meinung. Auf der einen Seite steht die Gesellschaft und auf der andern das Individuum, jedes ein Organismus, der nach Selbsterhaltung strebt. Macht gegen Macht. Ich stehe allein und bin gezwungen, die Gesellschaft anzuerkennen, wogegen ich nichts einzuwenden habe, denn als Gegenleistung für die Steuern, die ich zahle, beschützt sie mich, den Schwächling, gegenüber der Tyrannei derjenigen, die stärker sind als ich. Aber ich unterwerfe mich ihren Gesetzen nur, weil ich muss; ich anerkenne ihre Gerechtigkeit nicht. Ich kenne keine Gerechtigkeit, ich kenne nur Macht. Und wenn ich für den Polizisten bezahlt habe, der mich beschützt, und wenn ich, falls ich in einem Land lebe, in dem die allgemeine Wehrpflicht eingeführt ist, in der Armee gedient habe, die mein Land und mein Haus vor Überfällen bewahrt, ist meine Rechnung mit der Gesellschaft beglichen: Im Übrigen setze ich ihrer Macht meine List entgegen. Sie macht Gesetze zu ihrer Selbsterhaltung, und wenn ich diese breche, sperrt sie mich ein oder tötet mich: Sie hat dazu die Macht und daher auch das Recht. Wenn ich die Gesetze breche, nehme ich die Rache des Staats hin, aber ich werde sie weder als Bestrafung ansehen, noch wäre ich von meinem Unrecht überzeugt. Die Gesellschaft versucht mich mit Ehren, Reichtümern und der guten Meinung meiner Mitbürger in ihren Dienst zu locken, aber ich mache mir nichts aus dieser guten Meinung, ich verabscheue Ehren, und ich kann sehr gut ohne Reichtümer leben.«
»Aber wenn jeder denken würde wie Sie, müsste ja sofort alles zugrunde gehen.«
»Die andern gehen mich nichts an. Ich kümmere mich nur um mich selbst. Ich ziehe Nutzen aus der Tatsache, dass die Majorität der Menschheit durch gewisse Belohnungen verlockt wird, Dinge zu tun, die direkt oder indirekt zu meiner Bequemlichkeit beitragen.«
»Das ist aber eine furchtbar egoistische Sicht der Dinge«, meinte Philip.
»Glauben Sie denn, dass die Menschen jemals aus anderen als egoistischen Gründen handeln?«
»Ja.«
»Das ist völlig unmöglich. Je älter Sie werden, desto klarer wird es Ihnen werden, dass man vor allem den unvermeidlichen Egoismus der Menschheit erkannt haben muss, wenn man die Welt zu einem erträglichen Aufenthaltsort machen will. Sie verlangen Selbstlosigkeit von den andern, was gleichbedeutend ist mit der unsinnigen Forderung, dass die andern ihre Wünsche den Ihrigen unterordnen. Warum denn? Wenn Sie sich mit der Tatsache abgefunden haben, dass jeder auf sich gestellt ist, werden Sie weniger von Ihren Mitmenschen verlangen. Sie werden nicht so leicht enttäuscht, und Sie werden ihnen mit größerer Nachsicht begegnen. Die Menschen suchen nur eines im Leben: ihr Vergnügen.«
»Nein, nein, nein!«, rief Philip.
Cronshaw lachte in sich hinein.
»Sie bäumen sich auf wie ein erschrecktes Fohlen, weil ich ein Wort verwendet habe, dem Ihr Christentum eine abfällige Bedeutung zuschreibt. Sie haben eine Wertehierarchie; die Lust ist die unterste Sprosse der Leiter, und Sie sprechen mit einem leisen Anflug von Selbstzufriedenheit von Pflicht, Nächstenliebe und Wahrhaftigkeit. Sie glauben, Lust sei nur eine Sache der Sinne; die elenden Sklaven, die Ihre Moral fabriziert haben, verschmähten Befriedigungen, die zu
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