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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Künstler einen ziemlich jammervollen Gebrauch von seinem Leben gemacht hatte. Cronshaw schaute ihn nachdenklich an und füllte sein Glas. Er schickte den Kellner um ein Päckchen Zigaretten.
    »Sie lachen, weil Sie mich so reden hören und doch wissen, dass ich arm bin und in einer Dachkammer wohne, mit einer Hure, die mich mit den Friseurgehilfen und den garçons de café betrügt, ich übersetze schlechte Bücher für das englische Publikum und schreibe Artikel über miserable Bilder, die nicht einmal einen Verriss wert sind. Aber bitte, sagen Sie mir, was ist der Sinn des Lebens?«
    »Oh, das ist eine ganz schön schwierige Frage. Wollen Sie die Antwort nicht selbst geben?«
    »Nein, weil sie wertlos ist, wenn Sie sie nicht allein finden. Wozu, glauben Sie, sind Sie auf der Welt?«
    Philip hatte sich niemals danach gefragt, und er dachte einen Augenblick lang nach, bevor er antwortete:
    »Ach, ich weiß nicht: vermutlich, um meine Pflicht zu tun und meine Fähigkeiten zu nützen und zu vermeiden, anderen Leuten Böses zu tun.«
    »Kurz und gut, um sich Ihren Mitmenschen gegenüber so zu verhalten, wie Sie wünschen, dass man sich Ihnen gegenüber verhalten möge.«
    »Vielleicht.«
    »Also Christentum.«
    »Nein, keine Spur«, sagte Philip entrüstet. »Das hat mit Christlichkeit nichts zu tun. Es ist einfach abstrakte Moral.«
    »Abstrakte Moral gibt es nicht.«
    »So! Und wenn Sie unter der Einwirkung von Alkohol Ihre Börse liegenlassen und ich sie aufhebe und Ihnen zurückbringe: Warum, glauben Sie, tue ich das? Doch nicht, weil ich mich vor der Polizei fürchte?«
    »Es ist die Angst vor der Hölle, wenn Sie sündigen, und die Hoffnung auf den Himmel, wenn Sie tugendhaft sind.«
    »Aber ich glaube doch weder an das eine noch an das andere.«
    »Das kann sein. Kant hat auch nicht daran geglaubt, als er den kategorischen Imperativ aufstellte. Sie haben einen Glauben beiseitegeworfen, aber die Ethik beibehalten, die auf ihm aufgebaut war. Auf alle Fälle sind Sie immer noch ein Christ, und wenn es einen Gott im Himmel gibt, können Sie Ihres Lohnes sicher sein. Der Allmächtige dürfte kaum der Narr sein, den die Kirchen aus ihm machen. Wenn Sie sich an seine Gesetze halten, kann es ihm vollkommen gleichgültig sein, ob Sie an ihn glauben oder nicht.«
    »Aber wenn ich meine Börse liegenließe, würden Sie sie mir doch sicherlich auch zurückgeben«, sagte Philip.
    »Nicht aus Motiven abstrakter Moral, sondern nur aus Angst vor der Polizei.«
    »Sie können tausend zu eins damit rechnen, dass die Polizei niemals dahinterkommt.«
    »Meine Vorfahren haben so lange in einem zivilisierten Staat gelebt, dass mir die Angst vor der Polizei ganz tief in den Knochen steckt. Die Tochter meines concierge würde keinen Augenblick zögern. Sie werden mir antworten, dass sie den verbrecherischen Schichten angehört; nicht im mindesten. Sie ist lediglich frei von gewöhnlichen Vorurteilen.«
    »Dann wären also Ehre, Tugend, Güte, Anständigkeit und all das – nichts?«, sagte Philip.
    »Haben Sie je eine Sünde begangen?«
    »Ich weiß nicht; wahrscheinlich schon«, erwiderte Philip.
    »Sie sprechen mit den Lippen eines nonkonformistischen Geistlichen. Ich habe niemals eine Sünde begangen.«
    Cronshaw sah in seinem schäbigen Überzieher mit dem aufgeschlagenen Kragen, den Hut fest in die Stirn gedrückt, seinem roten Gesicht und seinen kleinen, funkelnden Augen außerordentlich komisch aus; aber Philip war zu ernst zumute, als dass er hätte lachen können.
    »Haben Sie nie etwas getan, was Sie bereuen?«
    »Wie kann ich etwas bereuen, wenn das, was ich getan habe, unvermeidlich war?«, fragte Cronshaw seinerseits.
    »Aber das ist ja reinster Fatalismus.«
    »Die Illusion des Menschen von der Freiheit seines Willens ist so tief verwurzelt, dass ich bereit bin, sie anzuerkennen. Ich handle, als wäre ich ein freies Wesen. Ist die Handlung jedoch vollbracht, wird klar, dass alle Kräfte des Weltalls von Ewigkeit her verschworen waren, sie zustande zu bringen; nichts, was in meiner Macht lag, hätte sie verhindern können. Sie war unvermeidlich. Wenn sie gut war, kann ich kein Verdienst beanspruchen, war sie schlecht, keinen Tadel hinnehmen.«
    »Mir raucht der Kopf«, rief Philip.
    »Trinken Sie einen Schluck Whisky«, entgegnete Cronshaw, indem er ihm die Flasche zuschob. »Nichts macht den Kopf klarer. Wenn Sie beim Bier bleiben, wird Ihr Geist langsamer werden.«
    Philip schüttelte den Kopf, und Cronshaw fuhr

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