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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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vertreiben.
    »Ach, möchten Sie nicht kommen und sich meine Zeichnung ansehen? Ich bin in eine Sackgasse geraten.«
    »Vielen Dank, aber ich habe Besseres zu tun.«
    Philip starrte sie überrascht an. Bisher hatte sie stets die größte Bereitwilligkeit an den Tag gelegt, wenn er sie um Rat fragte. Sie fuhr fort, rasch, leise und außer sich vor Wut.
    »Jetzt, wo Lawson weg ist, bin ich Ihnen gut genug. Aber besten Dank. Suchen Sie sich jemand anderen. Ich will kein Lückenbüßer sein.«
    Lawson hatte eine ausgesprochene pädagogische Begabung; wenn er etwas herausgefunden hatte, dann drängte es ihn, es mitzuteilen; und weil er mit Freude unterrichtete, unterrichtete er mit Erfolg. Philip hatte unwillkürlich die Gewohnheit angenommen, neben ihm zu sitzen; er wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Fanny Price sich vor Eifersucht verzehrte und ihr Ärger noch gewachsen war, weil er dem Rat eines anderen folgte.
    »Ich war Ihnen gut genug, solange Sie niemanden hier kannten«, sagte sie bitter, »kaum aber hatten Sie sich mit anderen Leuten angefreundet, warfen Sie mich beiseite wie einen alten Handschuh« – sie wiederholte den abgenutzten Vergleich mit Genugtuung –, »wie einen alten Handschuh. Nun gut, es macht mir nichts aus, aber ein zweites Mal lasse ich mich nicht zum Narren halten.«
    Es war eine Spur Wahrheit in dem, was sie sagte, und Philip wurde so böse, dass er antwortete, was ihm gerade in den Sinn kam.
    »Ach, ich habe Sie doch nur um Rat gefragt, weil ich Ihnen eine Freude machen wollte.«
    Sie fuhr zusammen und warf ihm einen verzweifelten Blick zu. Dann rollten zwei dicke Tränen über ihre Wangen. Sie sah zerzaust und grotesk aus. Philip konnte sich nicht erklären, was diese neue Haltung zu bedeuten hatte, und er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Er fühlte sich unbehaglich, und sein Gewissen regte sich, doch wollte er nicht zu Fanny gehen und sich entschuldigen, weil er ihr weh getan hatte, denn er fürchtete, abgewiesen zu werden. Zwei, drei Wochen lang sprach sie nicht mit ihm, und nachdem Philip sich über das anfängliche Unbehagen, geschnitten zu werden, hinweggesetzt hatte, fühlte er sich beinahe erleichtert, eine so schwierige Freundschaft los zu sein. Der Besitzanspruch, den sie sich ihm gegenüber anmaßte, hatte ihn ein wenig beunruhigt. Sie war eine außergewöhnliche Frau. Sie kam jeden Tag um acht Uhr ins Atelier und war bereit, mit der Arbeit zu beginnen, sobald das Modell seine Stellung einnahm; sie arbeitete beständig, unterhielt sich mit niemandem, kämpfte Stunde um Stunde mit Schwierigkeiten, die sie nicht bewältigen konnte, und blieb, bis die Uhr zwölf schlug. Ihre Arbeiten waren hoffnungslos schlecht. Nicht die winzigste Annäherung an das Mittelmaß, das die meisten der jungen Leute nach einigen Monaten zu erreichen fähig gewesen waren, war darin zu erkennen. Jeden Tag trug sie denselben hässlichen braunen Rock, an dessen Saum der Schmutz vom letzten Regentag schon hart geworden war und dessen ausgefranste Stellen, die Philip aufgefallen waren, als er sie das erste Mal gesehen hatte, noch immer nicht geflickt worden waren.
    Aber eines Tages kam sie mit purpurrotem Gesicht auf ihn zu und fragte ihn, ob sie nach der Schule mit ihm sprechen könnte.
    »Natürlich.« Philip lächelte. »Ich werde um zwölf Uhr auf Sie warten.«
    Nach der Arbeit ging er zu ihr hin.
    »Wollen Sie mich ein Stückchen begleiten?«, fragte sie, ohne ihn anzusehen.
    »Gern.«
    Sie gingen ein paar Minuten schweigend nebeneinander her.
    »Erinnern Sie sich, was Sie neulich zu mir gesagt haben«, begann sie plötzlich.
    »Ach, lassen Sie uns doch nicht streiten«, entgegnete Philip. »Das ist es doch wirklich nicht wert.«
    Sie seufzte rasch und schmerzlich auf.
    »Ich will nicht mit Ihnen streiten. Sie sind der einzige Freund, den ich in Paris hatte. Ich hatte gedacht, dass Sie mich mögen. Es besteht doch eine gewisse Zusammengehörigkeit zwischen uns. Ich fühlte mich zu Ihnen hingezogen. Sie verstehen mich – Ihr Fuß.«
    Philip errötete und bemühte sich instinktiv, möglichst normal zu gehen. Er mochte es nicht, wenn jemand sein Gebrechen erwähnte. Er wusste, was Fanny Price meinte. Sie war hässlich und linkisch, und weil er verkrüppelt war, bestand eine gewisse Zuneigung zwischen ihnen. Er war sehr böse auf sie, aber er zwang sich, nicht zu antworten.
    »Sie haben damals gesagt, dass Sie mich nur um Rat gefragt hätten, um mir eine Freude zu machen. Halten Sie nichts von

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