Der Menschen Hoerigkeit
duftend heraufgebracht worden war (Miss Chalice hatte die Kartoffeln dazu gekocht, und das ganze Atelier roch nach geschmorten Karotten – geschmorte Karotten waren Miss Chalices Spezialität); und danach sollten poires flambées gereicht werden, Birnen mit flambiertem Brandy, die sich Cronshaw zuzubereiten erboten hatte. Den Abschluss des Mahles bildete ein riesiger fromage de Brie, der neben dem Fenster stand und seinen würzigen Geruch mit den übrigen Düften vermengte, die das Atelier erfüllten. Cronshaw saß auf dem Ehrenplatz, auf einem Reisekoffer, mit untergeschlagenen Beinen wie ein Pascha, und strahlte gutmütig auf die jungen Menschen herab, die ihn umgaben. Obwohl es in dem kleinen geheizten Atelier sehr heiß war, hatte er aus Gewohnheit seinen Wintermantel mit dem hochgeschlagenen Kragen anbehalten und auch die Melone nicht abgelegt. Er blickte mit Befriedigung auf die vier großen Flaschen Chianti, die vor ihm aufgereiht standen und eine Whiskyflasche in ihrer Mitte flankierten: eine schöne, schlanke Kaukasierin, bewacht von vier dicken Eunuchen. Hayward hatte, um nicht von den andern abzustechen, einen einfachen Tweedanzug angezogen. Er sah grotesk britisch aus. Man war sehr höflich zu ihm, und während der Suppe wurde vom Wetter und von der politischen Situation gesprochen. Dann trat eine Pause ein, während auf die Hammelkeule gewartet wurde, und Miss Chalice zündete sich eine Zigarette an.
»Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter«, sagte sie plötzlich.
Und mit einer eleganten Bewegung löste sie eine Schleife, so dass ihr die Zöpfe über die Schultern fielen. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich fühle mich immer wohler mit offenem Haar.«
Mit ihren großen braunen Augen, dem schmalen, asketischen Gesicht, der blassen Haut und der breiten Stirn sah sie aus, als wäre sie einem Bild von Burne-Jones entstiegen. Sie hatte lange, schöne Hände, und ihre Fingerspitzen waren dunkelbraun von Nikotin. Sie trug ein wallendes Gewand, mattviolett und grün. Sie verkörperte die Romantik der High Street in Kensington und war übertrieben ästhetisch, dabei aber ein hinreißendes Geschöpf, freundlich und hilfsbereit; und ihre Affektiertheiten gingen nicht tief. Es klopfte, und ein Schrei der Begeisterung war zu hören. Miss Chalice erhob sich und öffnete die Tür. Sie nahm die Hammelkeule und hielt sie hoch über ihr Haupt, wie den Kopf von Johannes dem Täufer; und immer noch die Zigarette im Mund, kam sie mit ernsten feierlichen Schritten heran.
»Heil dir, Tochter der Herodias«, rief Cronshaw.
Die Hammelkeule wurde mit Genuss verzehrt, und es war ein Vergnügen zu sehen, welch herzhaften Appetit die blasse Dame hatte. Sie saß zwischen Clutton und Potter, und es war kein Geheimnis, dass sie sich weder dem einen noch dem andern gegenüber übertriebener Sprödigkeit schuldig gemacht hatte. Sie hatte von den meisten Männern nach sechs Wochen genug, verstand es jedoch vortrefflich, mit den jungen Herren umzugehen, die einst zu ihren Füßen geschmachtet hatten. Sie trug ihnen nichts nach, obwohl sie aufgehört hatte, sie zu lieben, und kam ihnen freundschaftlich, aber ohne Vertraulichkeit entgegen. Hie und da blickte sie mit melancholischen Augen zu Lawson hinüber. Die poires flambées waren ein großer Erfolg, teils wegen des Schnapses, teils weil Miss Chalice darauf bestanden hatte, dass sie zusammen mit dem Käse verzehrt wurden.
»Ich weiß nicht, ob es ganz ausgezeichnet schmeckt, oder ob ich mich gleich übergeben muss«, sagte sie, nachdem sie diese Mischung gekostet hatte.
Kaffee und Cognac folgten schnell genug, um unliebsamen Folgen vorzubeugen, und man setzte sich behaglich hin und rauchte. Ruth Chalice, die nichts tun konnte, was nicht betont künstlerisch war, lagerte sich in anmutiger Pose neben Cronshaw und ließ ihren wundervollen Kopf an seiner Schulter ruhen. Sie starrte mit sinnenden Augen in den dunklen Abgrund der Zeit, und hin und wieder mit einem langen, nachdenklichen Blick auf Lawson, und seufzte tief auf.
Dann kam der Sommer, und Ruhelosigkeit packte die jungen Leute. Der blaue Himmel lockte sie ans Meer, und der sanfte Wind, der durch die Blätter der Platanen auf den Boulevards strich, zog sie aufs Land. Alle machten Pläne, Paris zu verlassen; es wurde diskutiert, was die beste Größe für die Leinwände sei, um sie zu transportieren; sie legten sich Platten für die Skizzen zurecht und stritten über die Vorzüge verschiedener Orte in der Bretagne. Flanagan
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