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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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sind alte Sachen schöner als moderne. Die Ode auf eine griechische Urne ist nun lieblicher als zu dem Zeitpunkt, an dem sie geschrieben worden ist, weil sie hundert Jahre hindurch immer wieder von Liebenden gelesen worden ist und so manches kranke Herz in ihren Zeilen Trost gefunden hat.«
    Philip ließ Hayward den Schluss ziehen, warum ihm in der vorüberziehenden Landschaft diese Worte in den Sinn gekommen waren; und es war erfreulich zu wissen, dass er sicher imstande sein würde, den Schluss zu ziehen. Als unmittelbare Reaktion auf das Leben, das er so lange geführt hatte, war er plötzlich tief bewegt. Das zarte Schillern der Londoner Luft verlieh dem grauen Stein der Bauwerke die Sanftheit eines Pastellbildes; und Anlegeplätze und Lagerhäuser hatten die ernsthafte Anmut japanischer Drucke. Sie fuhren weiter, und der prächtige Fluss, ein Symbol des großen Empires, wurde breiter und war voll von Verkehr; Philip dachte an die Maler und Dichter, die all diese Dinge so schön gemacht hatten, und sein Herz war von Dankbarkeit erfüllt. Sie erreichten den Londoner Hafen. Wer kann dessen Majestät beschreiben? Der Anblick lässt einen erschauern, und der Himmel weiß, welche Gestalten noch immer an den breiten Ufern wandeln, Doktor Johnson mit Boswell an seiner Seite und der alte Pepys, der ein Kriegsschiff besteigt: Die ganze Fülle der englischen Geschichte, Romantik und Abenteuer. Mit leuchtenden Augen wandte sich Philip Hayward zu:
    »Guter Charles Dickens«, murmelte er und lächelte ein wenig über seine Rührung.
    »Tut es dir leid, dass du die Malerei an den Nagel gehängt hast?«, fragte Hayward.
    »Nein.«
    »Du bist also gern Arzt?«
    »Im Gegenteil. Es ist mir zuwider; aber was sollte ich sonst tun? Die Plackerei während der ersten beiden Jahre ist schrecklich, und leider bringe ich kein besonderes Interesse für wissenschaftliche Arbeit mit.«
    »Man kann schließlich auch nicht immer von einem Beruf in den anderen springen.«
    »Nein, sicher nicht. Ich bleibe bei meinem. Ich glaube, es wird mir viel mehr Freude machen, wenn ich erst einmal im Hospital arbeiten kann. Ich habe so ein Gefühl, dass mein stärkstes Interesse den Menschen gilt. Und soweit ich es überblicken kann, ist der Beruf eines Arztes der einzige, in dem man seine Freiheit hat. Das, was man wissen muss, trägt man bei sich, im Kopf. Ein Instrumentenköfferchen, ein paar Arzneien, und man kann seinen Lebensunterhalt verdienen, wo man Lust hat.«
    »Willst du dir denn keine Praxis einrichten?«
    »Fürs Erste jedenfalls noch nicht«, antwortete Philip. »Sobald ich meine Praktikantenzeit im Hospital hinter mir habe, sehe ich zu, dass ich eine Stellung als Schiffsarzt bekomme. Ich möchte in den Fernen Osten – das Malaiische Archipel, Siam, China oder so. Und dann nehme ich die Arbeit an, die sich gerade bietet. Es gibt immer etwas zu tun, Choleradienst in Indien – was weiß ich. Ich möchte die Welt kennenlernen. Die einzige Möglichkeit für einen Menschen, der kein Geld besitzt, ist dazu der Arztberuf.«
    Dann kamen sie nach Greenwich. Das vornehme Gebäude von Inigo Jones stand mächtig am Ufer des Flusses.
    »Schau mal, das muss der Ort sein, wo Poor Jack im Schlamm nach Münzen gesucht hat«, sagte Philip.
    Sie streiften im Park umher. Zerlumpte Kinder spielten darin unter lautem Geschrei; hier und dort sonnten sich alte Seemänner. Es war, als wäre die Zeit hier vor hundert Jahren stehengeblieben.
    »Ist es nicht schade, dass du zwei Jahre in Paris vertan hast?«, sagte Hayward.
    »Vertan? Sieh dir die Bewegungen dieses Kindes an, sieh dir die Muster an, die die Sonne auf den Boden zeichnet, wenn sie durch die Bäume scheint, sieh dir den Himmel an – ich hätte diesen Himmel niemals gesehen, wäre ich nicht in Paris gewesen.«
    Hayward kam es vor, als unterdrücke Philip ein Schluchzen, und er sah ihn erstaunt an.
    »Was ist los mit dir?«
    »Nichts. Es tut mir leid, dass ich so verdammt rührselig bin, aber seit sechs Monaten hungere ich nach Schönheit.«
    »Du wirkst immer so sachlich. Es ist sehr interessant, dich das sagen zu hören.«
    »Zum Teufel, ich will nicht interessant sein«, sagte Philip mit einem Lachen. »Komm, wir wollen Tee trinken gehen.«
    65
     
    Haywards Besuch tat Philip außerordentlich gut. Seine Gedanken beschäftigten sich immer weniger mit Mildred. Er konnte nur mit Ekel an das, was hinter ihm lag, zurückdenken. Er begriff nicht, wie er einer solch schmählichen Liebe hatte erliegen

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