Der Menschen Hoerigkeit
dachte er, dass sie zehn Mildreds wert sei, sie war viel unterhaltsamer, und es war viel vergnüglicher, mit ihr zu reden. Sie war klüger, und sie hatte ein viel netteres Wesen. Sie war eine gute, tapfere, ehrliche kleine Frau, während Mildred, so dachte er bitter, keine dieser Bezeichnungen verdiente. Wenn er auch nur ein bisschen Vernunft hätte, würde er an Norah festhalten, sie würde ihn glücklicher machen, als er je mit Mildred werden könnte: Sie liebte ihn schließlich, während ihm Mildred nur seiner Hilfe wegen dankbar war. Aber trotz aller Überlegungen war es eben doch das Wichtigste zu lieben, nicht geliebt zu werden, und er sehnte sich von ganzem Herzen nach Mildred. Lieber wollte er zehn Minuten mit ihr verbringen als einen ganzen Nachmittag mit Norah, er schätzte einen Kuss von ihren kalten Lippen höher als alles, was Norah ihm geben konnte.
›Ich kann es nicht ändern‹, dachte er, ›sie steckt mir im Blut.‹
Es kümmerte ihn nicht, dass sie herzlos, bösartig und vulgär, dumm und habgierig war, er liebte sie. Er wollte lieber mit der einen unglücklich sein als mit der anderen glücklich.
Als er sich erhob, um zu gehen, sagte Norah beiläufig:
»Dann werde ich dich also morgen wieder sehen, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete er.
Er wusste, dass er nicht würde kommen können, weil er Mildred beim Umzug helfen müsste, aber er hatte nicht den Mut, ihr das zu sagen. Er entschloss sich, ihr dann wieder ein Telegramm zu schicken. Mildred besah sich am Vormittag die Zimmer und war zufrieden, und nach Tisch ging Philip mit ihr nach Highbury. Sie hatte einen großen Koffer für ihre Kleider und einen anderen für verschiedene Kleinigkeiten, Kissen, Lampenschirme, Bilderrahmen, mit denen sie ihre Wohnung ein bisschen behaglich machen wollte, außerdem hatte sie noch etwa zwei oder drei große Kartons, aber alles zusammen ließ sich auf dem Verdeck einer Pferdedroschke unterbringen. Als sie durch die Victoria Street fuhren, lehnte sich Philip tief in den Wagen zurück, für den Fall, dass Norah gerade vorüberkommen würde. Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ihr zu depeschieren, und vom Postamt in der Vauxhall Bridge Road aus konnte er es auch nicht tun, weil sich Norah fragen würde, was er in dieser Gegend zu tun habe. Und wenn er schon dort war, gab es keine Entschuldigung, warum er nicht bis zum benachbarten Platz ging, an dem sie wohnte. Letztendlich entschloss er sich, doch auf eine halbe Stunde zu ihr zu gehen, aber die Notwendigkeit dazu ärgerte ihn. Er war böse auf Norah, weil sie ihn zu billigen und erniedrigenden Ausflüchten zwang. Aber glücklich war er, dass er mit Mildred zusammen sein konnte. Es machte ihm Spaß, ihr beim Auspacken zu helfen, und ein wunderbarer Besitzerstolz erfüllte ihn dabei, sie hier in Räumen unterzubringen, die er für sie gefunden hatte und bezahlte. Sie sollte keine Mühen haben. Es war ein Vergnügen, etwas für sie zu tun, und sie hatte keinerlei Wunsch, selbst etwas zu machen, was jemand anderer offenbar gerne für sie tat. Er packte ihre Kleider aus und räumte sie weg. Sie hatte nicht vor, noch auszugehen, und so holte er ihre Hauspantoffeln und zog ihr die Schuhe aus. Es gefiel ihm, Handlangerdienste zu leisten.
»Du verwöhnst mich aber richtig«, sagte sie und ließ ihre Finger zärtlich durch sein Haar gleiten, während er vor ihr auf den Knien hockte und ihr die Stiefel aufknöpfte.
Er nahm ihre Hand und küsste sie.
»Es ist großartig, dass du hier bist.«
Er ordnete die Kissen und stellte die Fotografien auf. Sie hatte verschiedene grüne irdene Krüge.
»Ich hole dir ein paar Blumen dafür«, sagte er.
Er besah voller Stolz sein Werk.
»Ich werde meinen Hausmantel anziehen«, sagte sie, »da ich ja heute doch nicht mehr ausgehe. Öffnest du mir hinten den Verschluss, ja?«
Sie drehte sich so selbstverständlich um, als wenn er eine Frau wäre. Sein Geschlecht bedeutete ihr nichts. Sein Herz war von Dankbarkeit über die Vertraulichkeit, die aus dieser Bitte sprach, erfüllt. Er löste mit ungeschickten Fingern Haken und Ösen.
»Als ich damals am ersten Tag in die Teestube kam, habe ich es mir nicht träumen lassen, dass ich das je für dich tun würde«, sagte er mit einem erzwungenen Lächeln.
»Irgendjemand muss es doch tun«, antwortete sie.
Sie ging ins Schlafzimmer und streifte sich einen blassblauen Hausmantel über, er war mit ganzen Wasserfällen billiger Spitze verziert. Dann machte Philip es ihr auf dem Sofa
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