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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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er nicht das Herz hatte, sie allein gehen zu lassen.
    »Ich fahre mit, wenn es dir recht ist.«
    Sie antwortete nicht, und er stieg ein. Sie fuhren schweigend über die Brücke, durch schmierige Straßen, wo Kinder mit lautem Gekreisch spielten. Als sie bei ihrer Tür ankamen, stieg sie nicht sofort aus. Es schien, als hätte sie nicht Kraft genug, ihre Beine zu bewegen.
    »Ich hoffe, du vergibst mir, Norah«, sagte er.
    Sie wandte ihm die Augen zu, und er sah, dass sie wieder voller Tränen waren; aber sie zwang ein Lächeln auf ihre Lippen.
    »Armer, du bist ganz besorgt meinetwegen! Mach dir keine Sorgen. Ich tadle dich nicht. Ich komme schon drüber hinweg.«
    Leicht und schnell fuhr sie über sein Gesicht, um ihm zu zeigen, dass sie ihm nicht böse war; es war kaum mehr als eine angedeutete Geste. Dann sprang sie aus dem Wagen und verschwand im Haus.
    Philip zahlte und ging zu Mildreds Wohnung. Ihm war das Herz seltsam schwer. Er machte sich fast Vorwürfe. Aber warum? Er wusste nicht, was er sonst hätte tun können. Als er bei einem Obstladen vorbeikam, erinnerte er sich daran, dass Mildred gerne Trauben aß. Er war so dankbar, dass er ihr seine Liebe zeigen konnte, dass er sich an jeden ihrer kleinsten Wünsche erinnerte.
    72
     
    Während der nächsten drei Monate ging Philip täglich zu Mildred. Er nahm seine Bücher mit und arbeitete nach dem Tee, während Mildred auf dem Sofa lag und Romane las. Manchmal sah er auf und betrachtete sie. Ein glückliches Lächeln lag dann auf seinen Lippen. Sie fühlte seine Augen auf sich ruhen.
    »Vergeude deine Zeit nicht damit, mich anzugucken, Dummer. Arbeite weiter«, sagte sie dann.
    »Tyrann«, antwortete er fröhlich.
    Er legte seine Bücher fort, wenn die Wirtin hereinkam, um den Tisch zum Abendessen zu decken. Weil er so glücklich war, scherzte er immer mit ihr. Sie war eine einfache kleine Londonerin in mittleren Jahren, schlagfertig und mit einem amüsanten Humor. Mildred hatte Freundschaft mit ihr geschlossen. Sie hatte ihr einen sorgfältig ausgearbeiteten, aber verlogenen Bericht der Umstände gegeben, die sie in diese traurige Lage gebracht hatten. Die gutherzige kleine Frau war gerührt, keine Mühe war ihr zu groß, um es Mildred behaglich zu machen. Mildred mit ihrem Tick für Schicklichkeit hatte vorgeschlagen, dass Philip sich als ihr Bruder ausgeben sollte. Sie aßen zusammen, und Philip war erfreut, wenn er etwas bestellt hatte, was Mildreds launenhaftem Appetit zusagte. Es entzückte ihn, sie ihm gegenüber sitzen zu sehen, und immer wieder nahm er aus reiner Glückseligkeit ihre Hand und drückte sie. Nach dem Essen saß sie in ihrem Lehnstuhl beim Feuer, und er ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder, schmiegte sich gegen ihre Knie und rauchte. Sehr häufig sprachen sie überhaupt nicht, und manchmal sah Philip, dass sie eingenickt war. Er wagte es dann nicht, sich zu bewegen, damit er sie nicht aufweckte, saß ganz still, blickte träge ins Feuer und freute sich seines Glücks.
    »Schönes Nickerchen gehabt?«, lächelte er, wenn sie erwachte.
    »Ich habe nicht geschlafen«, antwortete sie. »Ich habe nur ein bisschen die Augen zugemacht.«
    Sie gab nie zu, dass sie eingeschlafen war. Sie war phlegmatisch, und ihr Zustand machte ihr nicht sonderlich zu schaffen. Sie kümmerte sich viel um ihre Gesundheit und nahm jeden Rat an, den ihr irgendwer gab. Sie machte jeden Vormittag, wenn das Wetter schön war, einen längeren ›Verdauungsspaziergang‹ und blieb eine ganz bestimmte Zeit draußen. Wenn es nicht zu kalt war, saß sie im Park von St.   James. Den übrigen Tag aber brachte sie höchst vergnügt auf dem Sofa liegend zu, las einen Roman nach dem andern oder schwatzte mit der Wirtin; sie hatte ein unerschöpfliches Interesse an Klatsch und erzählte Philip nachher mit vielen Einzelheiten die Lebensgeschichte ihrer Wirtin oder des Untermieters im anderen Stockwerk und der Leute, die nebenan oder gegenüber wohnten. Hin und wieder war sie von panischer Angst erfüllt; dann breitete sie ihre ganze Angst vor der Entbindung vor Philip aus und war außer sich, weil sie vielleicht sterben könnte. Sie berichtete ihm ausführlich von der Entbindung der Wirtin und der Dame unter ihnen (Mildred kannte sie nicht; »ich bin jemand, der gern für sich bleibt«, sagte sie; »ich lass mich nicht mit jedem ein«), und sie erzählte die Einzelheiten mit einem Gemisch von Schrecken und Vergnügen; gewöhnlich aber sah sie dem Ereignis mit Gleichmut

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