Der Menschen Hoerigkeit
Adresse geben.«
Das Haus, das die dicke Frau vorschlug, lag in der nächsten Straße, und sie machten sich auf den Weg dahin. Philip konnte ganz gut gehen, obwohl er sich noch auf den Stock stützen musste; trotzdem fühlte er sich noch recht schwach. Mildred trug das Kind. Sie gingen eine Weile, ohne zu sprechen, und dann sah er, dass sie weinte. Es ärgerte ihn, und er tat, als merke er es nicht, aber sie zwang ihn, es zu bemerken.
»Gib mir bitte mal dein Taschentuch. Ich komme an meines nicht heran mit der Kleinen auf dem Arm.« Sie sagte es mit vor Schluchzen erstickter Stimme und hielt dabei den Kopf abgewandt.
Er gab ihr sein Taschentuch, sagte jedoch nichts. Sie trocknete sich die Augen, und da er noch immer nicht sprach, fuhr sie fort:
»Als ob ich giftig wäre.«
»Mach bitte keine Szene auf der Straße«, sagte er.
»Es wirkt so komisch, dass du auf getrennten Zimmern bestehst. Was soll man denn von uns denken?«
»Wüssten sie die näheren Umstände, würden sie uns wahrscheinlich für erstaunlich anständig halten«, sagte Philip.
Sie sah ihn mit einem Blick von der Seite her an.
»Du verrätst es doch nicht, dass wir nicht verheiratet sind?«, fragte sie schnell.
»Nein.«
»Warum willst du dann nicht mit mir wohnen, wie wenn wir verheiratet wären?«
»Meine Liebe, das kann ich dir nicht erklären. Ich möchte dich nicht kränken, aber ich kann einfach nicht. Mag sein, dass es furchtbar dumm und unvernünftig ist, aber es ist stärker als ich. Ich habe dich so sehr geliebt, dass jetzt…« Er hielt inne. »Dafür gibt es eben keine Erklärung.«
»Eine schöne Liebe ist das, von der du da redest«, rief sie aus.
Die Inhaberin der Pension, zu der man sie geschickt hatte, war eine geschäftig lärmende ledige Frau mit schlauen Augen und fließender Sprache. Sie könnten ein Doppelzimmer für fünfundzwanzig Shilling pro Person die Woche haben, plus fünf Shilling extra für das Kind, oder aber sie könnten auch zwei einzelne Zimmer haben, das würde aber ein Pfund mehr pro Woche machen.
»Ich muss so viel verlangen«, erklärte die Frau, sich entschuldigend, »denn wenn es hart auf hart kommt, kann ich auch in die Einzelzimmer zwei Betten stellen.«
»Das wird uns nicht ruinieren. Was meinst du, Mildred?«
»Oh, mir ist’s egal. Mir ist alles recht.«
Philip reagierte auf ihre schmollende Antwort mit einem Lächeln, und nachdem die Wirtin angeordnet hatte, das Gepäck abholen zu lassen, setzten sie sich, um auszuruhen. Philip schmerzte der Fuß ein wenig, und er war froh, dass er ihn hochlegen konnte.
»Ich hoffe, es macht dir nichts aus, mit mir im selben Zimmer zu sitzen«, sagte Mildred angriffslustig.
»Lass uns nicht streiten, Mildred«, sagte er freundlich.
»Ich habe nicht gewusst, dass es dir so gut geht, dass du ein Pfund pro Woche vergeuden kannst.«
»Ärgere dich nicht. Ich versichere dir, es ist die einzige Möglichkeit für uns, überhaupt miteinander zu leben.«
»Ich vermute, du verachtest mich, das ist es.«
»Keineswegs. Warum sollte ich?«
»Es ist so unnatürlich.«
»Wirklich? Du liebst mich nicht, oder?«
»Ich? Wofür hältst du mich?«
»Es ist auch nicht so, dass du eine sehr leidenschaftliche Frau wärst.«
»Es ist so erniedrigend«, sagte sie schmollend.
»Ach, ich würde an deiner Stelle deshalb kein Aufhebens machen.«
In der Pension wohnten etwa ein Dutzend Leute. Sie aßen in einem engen, dunklen Zimmer an einem langen Tisch, an dessen Ende die Pensionsinhaberin saß und das Fleisch aufschnitt. Das Essen war schlecht. Die Wirtin nannte es »französische Küche«, womit sie wohl sagen wollte, dass die minderwertigen Zutaten, die sie zum Kochen benutzte, durch schlecht zubereitete Saucen verdeckt wurde. Scholle wurde als Seezunge verkleidet und Hammel als Lamm. Die Küche war klein und unpraktisch, so dass alles lauwarm auf den Tisch kam. Die Leute waren langweilig und geziert, alte Damen mit altjüngferlichen Töchtern, komische alte Junggesellen mit zimperlicher Ziererei, bleichgesichtige Buchhalter in mittleren Jahren mit ihren Frauen, die von ihren verheirateten Töchtern und ihren Söhnen erzählten, die äußerst gute Stellungen in den Kolonien hatten. Bei Tisch diskutierte man die letzten Romane von Miss Corelli; manche von ihnen mochten Lord Leighton lieber als Mr. Alma-Tadema und andere gaben Mr. Alma-Tadema vor Lord Leighton den Vorzug. Mildred erzählte den Damen bald von ihrer romantischen Heirat mit Philip, und er wurde
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