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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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ein Gutteil gesunder Menschenverstand steckte. Seit zehn Jahren hielt er es so: Er ging mit der ganzen Familie auf ein Hopfenfeld in Kent, nicht weit weg von Mrs.   Athelnys Heimat, und dort verlebten sie dann drei Wochen und halfen die Hopfenernte einbringen. So waren sie an der frischen Luft, verdienten Geld – sehr zu Mrs.   Athelnys Befriedigung – und erneuerten ihren Kontakt mit Mutter Erde. Auf Letzteres legte Mr.   Athelny besonderen Wert. Der Aufenthalt in den Feldern gab ihnen neue Kraft. Es war wie eine magische Zeremonie, durch die sie ihre Jugend, die Kraft ihrer Glieder und die Sanftheit ihres Geistes erneuerten: Philip hatte ihn darüber viele phantastische, rhetorische und pittoreske Sachen sagen hören. Nun lud Athelny ihn ein, auf einen Tag hinüberzukommen; er wollte ihm gerne bestimmte Betrachtungen über Shakespeare und die Glasharfe mitteilen, außerdem schrien die Kinder nach dem Anblick Onkel Philips. Philip las den Brief noch mal, als er am Nachmittag mit Mildred am Strand lag. Er dachte an Mrs.   Athelny, die heitere, freundliche Mutter so vieler Kinder, an ihre liebenswürdige Gastfreundschaft und ihre immer gute Laune; er dachte an Sally, die für ihr Alter sehr ernst war, mit ihren spaßig-mütterlichen Zügen, ihrer autoritären Art, ihrem langen blonden Zopf und der breiten Stirn, und dann an die ganze übrige Schar, fröhlich lärmend, gesund und hübsch. Er fühlte in seinem Inneren eine große Zuneigung zu ihnen. Sie hatten eine Eigenschaft, die er, soweit er sich erinnern konnte, noch nie in dieser Form bei anderen Menschen angetroffen hatte: Güte. Bisher war ihm das nie so bewusst geworden, aber es war offenbar ihre Güte, die ihn so an sie band. Theoretisch glaubte er nicht daran: Wenn Moral nur dem Nutzen diente, hatten Gut und Böse keine Bedeutung, aber hier war sie, einfache Güte, die ganz natürlich kam und keinerlei Anstrengung bedurfte, und er fand es wunderschön. Nachdenklich riss er den Brief in kleine Schnitzel. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er ohne Mildred hinfahren konnte, und mit ihr mochte er nicht gehen.
    Es war sehr heiß, der Himmel war wolkenlos, und sie hatten sich in einen schattigen Winkel zurückgezogen. Die Kleine spielte versunken mit Steinen, die am Strand lagen, und hin und wieder kam sie zu Philip gekrochen, um ihm einen Stein zu geben; dann nahm sie ihn ihm wieder ab und legte ihn sorgfältig nieder. Sie spielte ein geheimnisvolles, kompliziertes Spiel, dessen Sinn nur sie selbst kannte. Mildred schlief. Sie lag mit zurückgewandtem Kopf, ihr Mund war leicht geöffnet, ihre Beine weit ausgestreckt, und ihre Stiefel standen grotesk unter ihren Unterröcken hervor. Seine Augen hatten zufällig und unbestimmt auf ihr geruht, aber jetzt betrachtete er sie mit sonderbarer Aufmerksamkeit. Er erinnerte sich, wie leidenschaftlich er sie geliebt hatte und wie er ihr jetzt so gänzlich gleichgültig gegenüberstand. Diese Verwandlung in ihm erfüllte ihn mit einem dumpfen Schmerz. Es schien ihm, dass alles, was er um sie gelitten hatte, umsonst und sinnlos gewesen war. Die Berührung ihrer Hand hatte ihn mit Entzücken erfüllt. Er hatte gewünscht, in ihre Seele vorzudringen, um jeden Gedanken und jedes Gefühl mit ihr teilen zu können. Er hatte wahrhaft gelitten, wenn es still geworden war zwischen ihnen und eine Bemerkung von ihr ihm zeigte, wie weit ihre Gedanken weggeeilt waren; er hatte gegen die unüberwindliche Wand rebelliert, die jede Persönlichkeit von der anderen zu trennen schien. Er fand es merkwürdig tragisch, dass er sie so irrsinnig geliebt hatte und nun überhaupt nicht mehr liebte. Manchmal hasste er sie. Sie war unfähig zu lernen, die Lebenserfahrungen hatten sie um nichts weiser gemacht. Sie war so unverfroren wie eh und je. Es empörte ihn, mit anzusehen, wie unverschämt sie die überarbeiteten Dienstboten in der Pension behandelte.
    Dann wanderten seine Gedanken zu seinen eigenen Plänen. Am Ende des vierten Jahres würde er sein Examen zur Geburtshilfe ablegen können, und nach einem weiteren Jahr konnte er praktizieren. Dann ließ sich vielleicht eine Reise nach Spanien ermöglichen. Er wollte gern die Bilder sehen, die er nur von Fotografien kannte. Er spürte, dass El Greco ein Geheimnis barg, das für ihn von besonderer Bedeutung war, und er meinte, er würde es in Toledo sicherlich ergründen. Er wünschte sich nicht etwa ein großartiges Leben; für hundert Pfund könnte er bestimmt sechs Monate lang in Spanien

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