Der Menschen Hoerigkeit
einem Wagen überfahren worden waren, und Kinder, die sich beim Spielen ein Bein gebrochen hatten, hin und wieder brachte die Polizei einen versuchten Selbstmörder. Philip sah einen totenbleichen, wild dreinblickenden Mann, mit einer riesigen, klaffenden Wunde von einem Ohr zum anderen; er blieb wochenlang im Krankenhaus unter Aufsicht eines Polizisten, still, ärgerlich, weil er am Leben geblieben war, und mürrisch. Er machte kein Geheimnis daraus, dass er sich wieder zu töten versuchen würde, sobald man ihn entließe. Die Zimmer waren überfüllt, und der Anstaltsarzt stand vor einem Dilemma, wenn Patienten von der Polizei eingeliefert wurden: Wurden sie auf die Wachstube geschickt und starben dort, gab es unangenehme Meldungen in den Zeitungen, und es war oft sehr schwierig festzustellen, ob ein Mann nur betrunken war oder im Sterben lag. Philip ging nicht eher schlafen, als bis er vor Müdigkeit umfiel, damit er nicht jede Stunde aufzuspringen brauchte. Er saß auf der Unfallstation und sprach während der Pausen, die seine Arbeit ihm ließ, mit der Nachtschwester. Eine grauhaarige Frau, die fast männlich wirkte und hier bereits seit zwanzig Jahren ihren Dienst versah. Sie hatte die Arbeit gern, weil sie ihr eigener Herr dabei war und sie keine Schwester belästigte. Sie bewegte sich langsam, war aber ungeheuer fähig und hatte im Notfall noch nie versagt. Für die Praktikanten, die unerfahren und nervös waren, war sie ein Fels in der Brandung. Sie hatte Tausende von ihnen zu sehen bekommen, und keiner hatte Eindruck auf sie gemacht. Sie nannte sie nur immer Mr. Brown, und wenn sie sich dagegen verwahrten und ihren richtigen Namen nannten, nickte sie nur und nannte sie weiterhin Mr. Brown. Es fesselte Philip, bei ihr in dem kahlen Zimmer mit den zwei Rosshaarsofas und dem flackernden Gas zu sitzen und ihr zuzuhören. Sie hatte lange aufgehört, die Leute, die hereinkamen, als menschliche Wesen anzusehen. Es waren für sie Betrunkene oder gebrochene Arme oder durchgeschnittene Kehlen. Sie nahm das Laster der Welt, die Grausamkeit und das Elend als Selbstverständlichkeiten hin, an menschlichen Handlungen gab es für sie nichts zu loben und nichts zu tadeln; man konnte sie nur hinnehmen. Sie hatte einen gewissen grimmigen Humor.
»Ich erinnere mich an einen Selbstmörder«, sagte sie zu Philip, »der sich in die Themse gestürzt hatte. Sie fischten ihn wieder heraus und brachten ihn her, und zehn Tage später bekam er Typhus, weil er zu viel Themsewasser geschluckt hatte.«
»Ist er gestorben?«
»Ja, er starb wohl, ich bin mir nie klargeworden, ob das nun ein Selbstmord war oder nicht… Diese Selbstmörder, das sind komische Leute. Ich erinnere mich da an einen Mann, der keine Arbeit finden konnte, und seine Frau starb. Da hat er dann seine Kleider aufs Leihhaus getragen und sich für den Erlös einen Revolver gekauft; aber es ging alles daneben: Er schoss sich nur ein Auge aus und kam wieder auf die Beine. Und dann, mit einem Auge weniger und einem kaputtgeschossenen Gesicht, kam er zu dem Schluss, dass die Welt gar nicht so übel sei, und lebte glücklich weiter. Eines habe ich immer wieder festgestellt: Aus Liebe begeht keiner Selbstmord, wie man das eigentlich erwartet, das bilden sich nur die Romanschreiber ein. Selbstmord wird begangen, weil kein Geld da ist. Ich weiß nicht, warum das so ist.«
»Wahrscheinlich ist Geld eben doch wichtiger als Liebe«, meinte Philip.
Jedenfalls beschäftigten sich Philips Gedanken sehr stark mit Geldproblemen. Er entdeckte, wie wenig Wahrheit das leichtfertig gesprochene Wort enthielt, dass zwei so billig leben könnten wie einer, das er selbst oft wiederholt hatte. Seine Ausgaben fingen an, ihn zu beunruhigen. Mildred konnte nicht gut haushalten; es kostete so viel, als wenn sie im Restaurant gegessen hätten; das Kind brauchte Sachen, Mildred Regenschuhe und einen Schirm und andere unverzichtbare Kleinigkeiten. Als sie aus Brighton zurückgekehrt waren, hatte sie die Absicht geäußert, nach Arbeit zu suchen, aber sie unternahm nichts Bestimmtes, und bald darauf musste sie sich mit einer Erkältung vierzehn Tage hinlegen. Als es ihr wieder gutging, meldete sie sich auf ein oder zwei Annoncen, aber es kam nichts dabei heraus: Entweder sie kam zu spät und die Stelle war bereits besetzt, oder aber sie fand die Arbeit zu schwer. Einmal erhielt sie ein Angebot, doch betrug der Lohn nur vierzehn Shilling pro Woche, und sie schätzte sich dann doch höher
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