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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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stellten eine nackte Gestalt dar, die ruhend auf einer Bank saß, andere den Abschied des Toten von seinen Lieben, und wieder andere hatten den Toten abgebildet, der dem Zurückbleibenden die Hand reicht. Alle waren Ausdruck des einen tragisch schweren Wortes: Lebewohl – das allein, sonst nichts. Ihre Schlichtheit war unendlich rührend. Freund trennte sich von Freund, der Sohn von der Mutter, der Schmerz der Überlebenden trat durch die Haltung, die sie zu wahren suchten, nur noch schärfer hervor. Das war vor langer, langer Zeit gewesen; die Jahrhunderte waren über ihr Unglück hinweggeschritten; zweitausend Jahre lang waren sie nun schon Staub, die Klagenden wie die, die hier beklagt wurden. Aber immer noch lebte die Klage fort, der festgehaltene Schmerz; er erfüllte Philips Herz, so dass er fühlte, wie Mitleid in ihm aufquoll, und er sagte:
    »Ihr Armen, ihr Armen!«
    Ja, auch die Gaffer, die fetten Fremden mit ihren Reiseführern, all die gewöhnlichen Leute, die sich im Laden um ihn drängten, mit ihren billigen Begierden und gemeinen Sorgen, sie alle waren sterblich und würden vergehen. Auch sie liebten und mussten Abschied nehmen von denen, die sie liebten, der Sohn von der Mutter, die Gattin vom Gatten. Erhöhte es nicht vielleicht noch die Tragik, dass ihr Leben hässlich und schmutzig war, dass sie nichts von der Schönheit dieser Welt ahnten? Ein Stein war besonders schön, ein Relief von zwei jungen Männern, die sich an den Händen hielten. Die zurückhaltende Linienführung, die Schlichtheit ließen darauf schließen, dass der Künstler aus eigenem Erleben gestaltet hatte. Es war ein erhabenes Denkmal des kostbarsten Gefühls, das die Welt darbietet: der Freundschaft. Als Philip davorstand, traten ihm die Tränen in die Augen. Er dachte an Hayward und wie sehr er ihn bewundert hatte, als sie einander kennenlernten, wie langsam die Illusionen zerstört wurden und Gleichgültigkeit den Platz der Freundschaft einnahm, bis schließlich nichts mehr sie verband als Gewohnheit und Erinnerungen an alte Zeiten. Wie seltsam das im Leben ist: Da sieht man einen Menschen monatelang, tagein, tagaus; man wird so vertraut miteinander, dass man den anderen nicht mehr aus seinem Leben fortzudenken vermag; dann kommt die Trennung, und alles geht weiter, als wäre nichts geschehen; der Gefährte, der so wesentlich Teil unseres Lebens schien, erweist sich als entbehrlich. Das Leben geht weiter, und man hat ihn kaum vermisst. Philip dachte an die alten Tage in Heidelberg, wo Hayward, zu großen Dingen fähig, voller Begeisterung in die Zukunft blickte, und wie er dann, als er nichts erreichte, langsam sein eigenes Versagen hinzunehmen begann. Und nun war er tot. Sein Tod war so sinnlos wie sein Leben. Ein unrühmlicher Tod an einer blöden Krankheit; selbst das Ende verfehlt – selbst dadurch nichts erreicht. Es war, als hätte er nie gelebt.
    Philip fragte sich verzweifelt, was es eigentlich für einen Sinn habe zu leben. Es schien alles so nichtig. Es war genauso wie bei Cronshaw; es war ganz unwichtig, dass er gelebt hatte, er war tot und vergessen, die übriggebliebene Auflage seines Gedichtbandes wurde in Antiquariaten verkauft, sein Leben schien keinem anderen Zweck gedient zu haben als dem, einem ehrgeizigen Journalisten die Möglichkeit zu bieten, in einer Zeitschrift einen Artikel zu schreiben. In Philips Seele schrie es: »Was ist der Sinn des Ganzen?«
    Die Anstrengung stand in keinem Verhältnis zu dem erreichten Resultat. Die leuchtenden Hoffnungen der Jugend mussten mit bitterer Ernüchterung bezahlt werden. Schmerz, Krankheit und Unglück lasteten schwer auf der Waagschale des Lebens. Was bedeutete es alles? Er dachte an sein eigenes Leben, die großen Hoffnungen, mit denen er alles begann, die Grenzen, die ihm sein Körper aufzwang, das Fehlen jeglicher Freundschaft und der Mangel an Zärtlichkeit, als er ein Kind war. Er konnte sich keiner Sache erinnern, die er nicht nach bestem Wissen und Gewissen getan hatte – und doch hatte alles nur zu Misserfolg geführt. Menschen, die ihm nichts voraus hatten – sie setzten sich erfolgreich durch, und andere wieder, voller Fähigkeiten und Möglichkeiten, versagten… Alles war reiner Zufall. Die Sonne schien über Gerechte und Ungerechte; es gab kein Warum, und es gab kein Deshalb.
    Während er noch an Cronshaw dachte, fiel ihm der persische Teppich ein und dass er gesagt hatte, darin sei die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens enthalten.

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