Der Menschen Hoerigkeit
Charme in diesem jakobäischen Haus. Athelny war aus irgendeinem phantastischen Grund darauf versessen, sich über byzantinische Geschichte zu unterhalten. Er hatte die letzten Bände von Gibbons Verfall und Untergang des römischen Imperiums gelesen, und mit dramatisch ausgestrecktem Zeigefinger erging er sich vor den staunenden Ohren des Verehrers in skandalösen Geschichten über Theodora und Irene. Er wandte sich dabei mit einem ganzen Schwall von prahlerischen Tiraden direkt an seinen Gast, und der junge Mann, der nur hilflos schweigen konnte und sowieso schüchtern war, nickte in angemessenen Abständen mit dem Kopf, um sein Verständnis und sein Interesse zu bekunden. Mrs. Athelny schenkte Thorpes Unterhaltung keinerlei Beachtung und unterbrach ihn hin und wieder, um dem jungen Mann noch eine Tasse Tee anzubieten oder ihm Kuchen und Marmelade aufzunötigen. Philip beobachtete Sally. Sie saß mit niedergeschlagenen Augen dabei, ruhig, schweigsam und beobachtend. Ihre langen Wimpern warfen einen reizenden Schatten auf ihre Wangen. Man konnte wirklich nicht sagen, ob die Szene sie belustigte oder ob sie für den jungen Mann etwas übrighatte. Sie war unergründlich. Eines jedenfalls war klar: Der Elektrotechniker war ein nett anzusehender, blonder, glattrasierter Mensch, er hatte regelmäßige Züge und ein ehrliches Gesicht, er war schlank und gut gebaut. Philip konnte sich nicht helfen: Er fand, er würde einen ausgezeichneten Mann für Sally abgeben. Wie ein Stich fuhr ihm Neid durchs Herz auf das Glück, das den beiden bevorzustehen schien.
Bald darauf sagte der Verehrer, es wäre wohl Zeit, dass er sich wieder auf den Weg machte. Sally stand ohne ein Wort auf und begleitete ihn zur Tür. Als sie zurückkam, platzte ihr Vater los:
»Nun, Sally, wir finden den Jungen sehr nett. Wir sind bereit, ihn in unserer Familie willkommen zu heißen. Lasst das Aufgebot verkünden; dann werde ich das Hochzeitslied komponieren.«
Sally machte sich daran, die Teesachen abzuräumen. Sie antwortete nicht. Plötzlich warf sie Philip einen schnellen Blick zu.
»Was halten Sie von ihm, Mr. Philip?«
Sie hatte sich stets geweigert, ihn wie die andern Kinder Onkel Phil zu nennen, und Philip mochte sie auch nicht zu ihm sagen.
»Ich glaube, ihr würdet ein sehr hübsches Paar abgeben.«
Sie sah ihn noch einmal schnell an und fuhr dann leicht errötend mit ihrer Arbeit fort.
»Ich finde, er ist ein sehr netter, wohlerzogener junger Mensch«, sagte Mrs. Athelny. »Ich glaube, er ist von dem Schlag, der jedes Mädchen glücklich machen kann.«
Sally antwortete nicht gleich. Vielleicht dachte sie über das, was ihre Mutter soeben gesagt hatte, nach; aber ebenso gut konnte sie auch an den Mann im Mond denken.
»Warum antwortest du nicht, wenn man mit dir spricht, Sally?«, bemerkte ihre Mutter leicht verärgert.
»Ich fand ihn ziemlich blöd.«
»Du willst ihn also nicht?«
»Nein –«
»Ich weiß nicht, was du eigentlich willst«, sagte Mrs. Athelny, und man sah deutlich, dass sie aufgebracht war. »Er ist ein sehr anständiger junger Bursche, und er kann dir ein sehr gutes Heim bieten. Wir haben hier auch ohne dich genug Mäuler zu füttern. Wenn sich einem eine solche Gelegenheit bietet, ist es ein dummer Leichtsinn, sie nicht wahrzunehmen.«
Philip hatte Mrs. Athelny noch nie zuvor so direkt die Schwierigkeiten ihres Lebens erwähnen hören. Er erkannte, wie wichtig es war, dass jedes Kind seine Versorgung fand.
»Es hat keinen Zweck, Mutter, dass du dich so anstellst«, sagte Sally in ihrer ruhigen Art. »Ich werde ihn nicht heiraten.«
»Ich finde, du bist ein sehr hartherziges, grausames, selbstsüchtiges Mädchen.«
»Wenn du willst, dass ich meinen Lebensunterhalt selbst verdiene, Mutter, kann ich jederzeit in Dienst gehen.«
»Sei nicht so dumm; du weißt, dass dein Vater das nie zulassen würde.«
Philip fing Sallys Blick auf, und er glaubte ein schelmisches Zwinkern darin zu entdecken. Er wusste nicht recht, was ihr in diesem Gespräch komisch vorgekommen sein konnte. Ein seltsames Mädchen.
116
Philip hatte während seines letzten Jahres im St. Luke’s Hospital schwer zu arbeiten. Aber mit dem Leben im Allgemeinen war er zufrieden. Er fand es sehr bequem, keine Herzensbindung zu haben und genug Geld für das Nötigste zu besitzen. Er hatte Leute mit Verachtung von Geld reden hören. Ob sie es wohl schon einmal versucht hatten, ohne Geld auszukommen? Er wusste, dass Mangel an
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