Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
Vom Netzwerk:
Sekretär diplomatisch.
    Philip überlegte sich die Sache einen Augenblick. Er hatte während der nächsten Wochen nichts zu tun und nahm die Gelegenheit, ein wenig Geld zu verdienen, gern wahr. Er konnte es für seine Reise nach Spanien beiseitelegen, die er sich als Belohnung versprochen hatte, nach beendeter Assistenzzeit im St.   Luke’s Hospital oder in irgendeinem anderen Krankenhaus, falls dort nichts für ihn frei sein sollte.
    »Abgemacht. Ich gehe hin.«
    »Das einzige Problem ist, dass Sie noch heute Nachmittag abfahren müssten. Würde Ihnen das passen? Wenn ja, werde ich sofort depeschieren.«
    Philip hätte gern ein paar Tage für sich gehabt, aber bei den Athelnys war er gerade am Abend vorher gewesen – er war sofort hingegangen, um ihnen die gute Neuigkeit mitzuteilen –, und eigentlich gab es keinen Grund, warum er nicht gleich reisen sollte. Er hatte wenig Gepäck zurechtzumachen. Kurz nach sieben verließ er in Farnley den Bahnhof und nahm sich einen Wagen zu Dr.   South. Es war ein breites, niederes Stuckhaus, das ganz mit wildem Wein bewachsen war. Er wurde in das Sprechzimmer geführt. Ein alter Mann saß vor einem Pult und schrieb. Er sah auf, als das Mädchen Philip hereinbegleitete. Er erhob sich nicht und sagte nichts. Er starrte Philip nur an. Dieser war ganz verblüfft.
    »Ich glaube, Sie erwarten mich«, sagte er. »Der Sekretär vom St. Luke’s Hospital hat Ihnen heute Morgen depeschiert.«
    »Ich habe deswegen das Essen um eine halbe Stunde verschoben. Wollen Sie sich waschen?«
    »Ja«, sagte Philip.
    Dr.   South amüsierte ihn mit seinen komischen Manieren. Jetzt stand er auf, und Philip sah, dass er mittelgroß war, mager, mit weißem, kurz geschnittenem Haar und einem breiten Mund, den er so fest geschlossen hielt, dass er überhaupt keine Lippen zu haben schien. Er war glattrasiert, nur zwei kleine Backenbärtchen waren ausgespart; dadurch wirkte das Gesicht noch viereckiger als allein durch das feste, entschiedene Kinn. Er trug einen braunen Drillichanzug. Die Kleider hingen ihm um den Leib, als wären sie für einen viel größeren Mann gemacht worden. Er sah wie ein braver Farmer aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aus. Er öffnete die Tür.
    »Das ist das Esszimmer«, sagte er, auf die gegenüberliegende Tür weisend. »Ihr Schlafzimmer ist gleich die erste Tür, wenn Sie auf den Flur hinaustreten. Kommen Sie herunter, wenn Sie fertig sind.«
    Philip merkte, wie Dr.   South ihn während des Essens beobachtete; er sprach wenig, und Philip spürte, dass er auch nicht wollte, dass sein Assistent redete.
    »Wann wurden Sie approbiert?«, fragte er plötzlich.
    »Gestern.«
    »Haben Sie auf der Universität studiert?«
    »Nein.«
    »Voriges Jahr haben sie mir, als mein Assistent in die Ferien ging, einen Mann von der Universität geschickt. Ich habe ihnen gesagt, das sollen sie künftig bleibenlassen. Zu feine Herren für meinen Geschmack.«
    Wiederum entstand eine Pause. Das Essen war sehr einfach und sehr gut. Philip behielt seine gesetzte Miene, aber innerlich sprudelte er vor Aufregung. Er fühlte sich unendlich stolz, weil er eine Stellung als Vertreter hatte; er kam sich so erwachsen vor; er hatte ein irres Verlangen zu lachen, nur so, über nichts Besonderes. Je mehr er an seine berufliche Würde dachte, umso mehr hätte er am liebsten losgekichert.
    Aber Dr.   South unterbrach plötzlich seine Gedanken.
    »Wie alt sind Sie?«
    »Bald dreißig.«
    »Wie kommt es, dass Sie erst jetzt Ihr Examen gemacht haben?«
    »Ich habe mit der Medizin erst angefangen, als ich schon fast dreiundzwanzig war, und dann habe ich das Studium zwei Jahre unterbrechen müssen.«
    »Warum?«
    »Armut.«
    Dr.   South warf ihm einen forschenden Blick zu und versank wieder in Schweigen. Nach dem Essen erhob er sich.
    »Wissen Sie, was für eine Praxis ich habe?«
    »Nein«, antwortete Philip.
    »Meistens Fischer und ihre Angehörigen. Ich habe das Armenhaus und das Fischer-Hospital. Früher war ich allein im Ort, aber seit sie dabei sind, dieses Nest in einen Mode-Kurort umzuwandeln, hat sich oben auf der Klippe einer niedergelassen, und die Reichen gehen zu ihm. Ich habe nur die, die es sich überhaupt nicht leisten können, einen Arzt zu rufen.«
    Philip merkte, dass die Konkurrenz eine empfindliche Stelle des alten Mannes traf.
    »Sie wissen, ich habe keine Erfahrung«, sagte Philip.
    »Keiner von euch weiß irgendetwas.«
    Er verließ den Raum ohne ein weiteres Wort und

Weitere Kostenlose Bücher