Der Menschen Hoerigkeit
er nicht dort seine erste Sehnsucht erlebt, die sich jetzt zur fixen Idee ausgewachsen hatte, die Länder des Ostens kennenzulernen und die sonnigen Inseln im tropischen Meer? Aber hier fühlte man sich dem weiten, hohen Meer näher als am Gestade der Nordsee, wo alles fest umrissen schien. Hier konnte man tief die Luft einatmen und über die unermessliche Weite der See hinschauen. Der Westwind, der liebe, sanfte Salzwind Englands, riss das Herz empor und schmolz es zu gleicher Zeit zu Zärtlichkeit.
Als Philip seine letzte Woche bei Dr. South arbeitete, kam eines Abends ein Kind zur Tür des Arzthauses. Dr. South und Philip waren gerade damit beschäftigt, Arzneien zurechtzumachen. Es war ein kleines, zerlumptes Mädchen, mit schmutzigem Gesicht und barfuß. Philip öffnete die Tür.
»Könnten Sie wohl bitte sofort zu Mrs. Fletcher in die Ivy Lane kommen, Sir?«
»Was fehlt denn Mrs. Fletcher?«, rief Dr. South von innen mit krächzender Stimme.
Das Kind beachtete ihn gar nicht, sondern wandte sich wieder an Philip.
»Bitte, Sir, können Sie wohl sofort kommen, ihr kleiner Junge hatte einen Unfall.«
»Also bestell Mrs. Fletcher, ich komme sofort«, rief Dr. South.
Das kleine Mädchen zögerte einen Augenblick, steckte ein schmutziges Fingerchen in den verschmierten Mund und sah zu Philip auf.
»Was ist denn los, Kind?«, fragte Philip lächelnd.
»Bitte, Sir, Mrs. Fletcher hat gesagt, ob wohl der neue Doktor kommen kann?«
Man hörte ein Geräusch in dem Apothekerzimmer, und Dr. South trat in den Flur.
»Ist Mrs. Fletcher mit mir nicht zufrieden?«, bellte er los. »Ich habe Mrs. Fletcher behandelt, seit sie geboren wurde. Warum bin ich mit einem Mal nicht gut genug, ihren schmutzigen Bengel zu behandeln?«
Das kleine Mädchen sah einen Augenblick aus, als wollte sie losheulen; dann besann sie sich eines Besseren. Sie streckte Dr. South die Zunge entgegen, und ehe der Arzt sich noch von seinem Erstaunen erholen konnte, schoss sie, so schnell sie nur laufen konnte, davon. Philip merkte, dass der alte Herr verärgert war.
»Sie sehen ziemlich abgespannt aus, und es ist ein anständiges Stück Weg bis zur Ivy Lane«, sagte er, um ihm eine Ausrede zu geben, dass er nicht selbst ging.
Dr. South gab ein Knurren von sich.
»Jedenfalls verdammt viel näher für jemand, der seine beiden Beine gebrauchen kann und nicht nur anderthalb.«
Philip wurde rot und stand eine Weile schweigend da.
»Wollen Sie, dass ich den Besuch mache, oder übernehmen Sie ihn?«, fragte er kalt.
»Was hat das für einen Zweck, dass ich hingehe? Man will Sie.«
Philip nahm den Hut und begab sich zu dem Patienten. Es war kurz vor acht Uhr, als er zurückkehrte. Dr. South stand mit dem Rücken zum Kamin im Esszimmer.
»Sie sind lange fortgeblieben«, sagte er.
»Ich bitte um Entschuldigung. Warum haben Sie denn nicht mit dem Abendbrot angefangen?«
»Weil ich es vorgezogen habe zu warten. Sind Sie die ganze Zeit über bei Mrs. Fletcher gewesen?«
»Nein, bedaure. Auf dem Heimweg bin ich stehen geblieben und habe mir den Sonnenuntergang angesehen; ich habe gar nicht daran gedacht, dass es schon spät ist.«
Dr. South antwortete nicht, und das Mädchen trug gebratene Sprotten auf. Philip langte mit herzhaftem Appetit zu. Plötzlich schoss Dr. South mit einer Frage heraus:
»Warum haben Sie den Sonnenuntergang betrachtet?«
Philip antwortete mit vollem Mund.
»Weil ich glücklich war.«
Dr. South warf ihm einen seltsamen Blick zu, der Schatten eines Lächelns huschte über sein müdes altes Gesicht. Sie aßen schweigend zu Ende. Als das Mädchen ihnen jedoch den Portwein gebracht hatte und fortgegangen war, lehnte sich der alte Herr zurück und heftete seinen Blick auf Philip.
»Es hat Sie ein bisschen getroffen, als ich von Ihrem lahmen Bein gesprochen habe, junger Mann?«, sagte er.
»Das ist so üblich; das tut jeder, mehr oder weniger direkt, wenn er ärgerlich auf mich ist.«
»Vermutlich weiß man, dass das Ihr schwacher Punkt ist.«
Philip drehte sich zu ihm hin und sah ihm direkt ins Gesicht:
»Sind Sie sehr froh, dass Sie das entdeckt haben?«
Der Arzt antwortete nicht, sondern lachte bitter auf. Sie saßen eine Weile da und starrten einander an. Dann überraschte Dr. South Philip außerordentlich.
»Warum wollen Sie nicht hierbleiben, ich schaffe mir den verdammten Narren mit seinem Mumps vom Hals.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich
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