Der Menschen Hoerigkeit
erzählte Dr. South Philip auch von sich selbst. Er war Witwer; seine Frau war schon vor dreißig Jahren gestorben, und seine Tochter hatte einen Farmer in Rhodesien geheiratet. Er hatte sich mit dem Schwiegersohn zerstritten, und seine Tochter war seit zehn Jahren nicht mehr daheim gewesen. Es war fast so, als hätte er niemals Frau und Kind besessen. Er war sehr einsam. Seine Rauhbeinigkeit war nicht mehr als ein Schutz, um seine völlige Illusionslosigkeit dahinter zu verbergen.
Philip fand es traurig zu sehen, wie er auf seinen Tod wartete, nicht ungeduldig, eher widerwillig, indem er das Alter mit seinen Einschränkungen hasste und dennoch fühlte, dass der Tod die einzige Erlösung von der Bitterkeit des Lebens wäre. Als Philip seinen Weg kreuzte, wandte er seine Zuneigung, die die lange Trennung von seiner Tochter bereits fast zunichtegemacht hatte – sie hatte sich in einem Streit auf die Seite ihres Mannes gestellt, und ihre Kinder hatte er noch nie gesehen –, nun Philip zu. Zuerst ärgerte er sich darüber, er sagte sich, das sei ein Zeichen von Altersschwäche; aber etwas an diesem jungen Menschen zog ihn an, und so lächelte er ihm zu, er wusste selbst nicht warum. Philip langweilte ihn nie. Gelegentlich legte Dr. South ihm einmal die Hand auf die Schulter, wohl die erste, scheue Zärtlichkeit, seit seine Tochter von ihm weggegangen war. Als die Zeit kam, dass Philip von ihm Abschied nehmen musste, begleitete Dr. South ihn zum Bahnhof. Er fühlte sich auf unerklärliche Weise bedrückt.
»Ich habe mich hier sehr wohl gefühlt«, sagte Philip. »Sie sind furchtbar nett zu mir gewesen.«
»Und Sie sind wahrscheinlich froh, dass Sie wegkommen?«
»Die Zeit hier hat mir sehr viel Freude gemacht.«
»Aber Sie möchten gern in die Welt hinaus. Ach, Sie sind jung.« Er zögerte einen Moment. »Denken Sie daran, dass ich bei meinem Angebot bleibe, falls Sie Ihre Absichten ändern sollten.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Philip schüttelte ihm noch einmal aus dem Abteil heraus die Hand, und dann dampfte der Zug aus der Bahnhofshalle. Philip dachte an die vierzehn Tage in den Hopfenfeldern, die vor ihm lagen; er war glücklich, seine Freunde wiederzusehen, und voller Fröhlichkeit, denn der Tag war schön. Dr. South jedoch ging langsamen Schrittes zu seinem leeren Hause zurück. Er fühlte sich alt und sehr einsam.
118
Es war spät am Abend, als Philip ankam. Ferne war Mrs. Athelnys Heimatdorf, und sie war seit Kindertagen daran gewohnt, in den Hopfenfeldern die Ernte zu pflücken. Sie hielt daran fest, jedes Jahr ging sie mit Mann und Kindern wieder hin. Wie viele Leute in Kent war ihre Familie stets auf die Felder gegangen, froh, ein bisschen Geld verdienen zu können. Man hatte diese alljährlich stattfindende Landpartie schon immer Wochen vorher herbeigesehnt und hielt sie für die allerschönsten Ferien. Die Arbeit war nicht schwer, sie wurde gemeinsam verrichtet, draußen im Freien; den Kindern erschien alles wie ein herrlicher langer Picknick-Ausflug. Hier kamen die jungen Burschen mit den Mädchen zusammen; an den langen Abenden wanderten sie nach vollendeter Arbeit verliebt durch die kleinen Gassen zwischen Hecken und Zäunen. Auf die Hopfenzeit folgten meist auch Hochzeiten. Man fuhr ins Freie mit Wägelchen, die mit Bettzeug, Töpfen und Tiegeln, Tisch und Stühlen beladen waren. Solange die Hopfenernte dauerte, lag Ferne verlassen da. Das Dorf bildete eine abgeschlossene Gemeinschaft; ein Eindringen von Fremden – so nannte man Leute aus London – war verpönt. Man verachtete und fürchtete diese zugleich – man hielt sie für Rowdys, und die ehrenwerte Landbevölkerung wollte nichts mit ihnen zu tun haben. In früheren Zeiten hatten die Hopfenpflücker in Scheunen geschlafen; aber vor etwa zehn Jahren hatte man ihnen eine Reihe von Hütten neben der Wiese errichtet. Wie viele andere bewohnten die Athelnys jedes Jahr die gleiche Hütte.
Athelny holte Philip mit dem kleinen Wägelchen vom Bahnhof ab, das er sich bei der Kneipe geborgt hatte, in der er für Philip ein Zimmer gemietet hatte. Sie stellten sein Gepäck ab und gingen zur Wiese hinüber, auf der sich die Hütten befanden. Das waren nichts weiter als lange, niedrige Schuppen, die in zwei kleine Räume unterteilt waren. Vor jeder Hütte war aus Holzscheiten ein Feuer errichtet, um das herum sich die Familie gesetzt hatte und die Zubereitung des Abendessens mit eifrigen Augen verfolgte. Die Seeluft und
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