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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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konnte.
    Glücklicherweise kamen Haywards Briefe eher selten, zwischenzeitlich beruhigte sich Philip und nahm sein fleißiges Leben wieder auf. Er hatte sich an der Universität immatrikuliert und besuchte die eine oder andere Vorlesung. Kuno Fischer stand damals auf dem Zenit seines Ruhmes und hatte den Winter über großartige Vorlesungen über Schopenhauer gehalten. Das war Philips Einführung in die Philosophie. Er hatte einen praktischen Sinn und bewegte sich im Abstrakten unsicher; aber er fand es unerwartet fesselnd, metaphysischen Erörterungen zu lauschen; es war atemberaubend, als sähe er einem Seiltänzer zu, der über einem gefährlichen Abgrund seine Künste vollführte. Der Pessimismus des Gegenstandes zog ihn an. Er glaubte, dass die Welt, in die er gerade im Begriff war einzutreten, ein Ort des Kummers und der Finsternis war; das dämpfte jedoch keineswegs sein Verlangen, sie endlich kennenzulernen, und als nun Mrs.   Carey nach einer Zeit im Auftrag seines Vormunds anfragte, ob es nicht allmählich Zeit für ihn wäre, nach England zurückzukehren, willigte Philip begeistert ein. Er musste sich nun entschließen, was er weiter tun wollte. Wenn er Ende Juli von Heidelberg abreiste, könnte man im August alles besprechen, und er hätte genügend Zeit, die nötigen Vorbereitungen zu treffen.
    Das Datum seiner Abreise wurde festgesetzt, und Mrs.   Carey schrieb ihm abermals. Sie erinnerte ihn an Miss Wilkinson, dank deren Freundlichkeit er in das Haus von Frau Professor Erlin in Heidelberg gekommen war. Miss Wilkinson, so schrieb sie, hätte beschlossen, ein paar Wochen in Blackstable zuzubringen; an dem und dem Tag würde sie in Flushing sein, und wenn er zur gleichen Zeit reiste, könnte er sich um sie kümmern und in ihrer Gesellschaft nach Blackstable fahren. Von seiner Schüchternheit getrieben, setzte sich Philip sofort hin und antwortete, dass er erst ein paar Tage später abreisen könne. Wie unangenehm, Miss Wilkinson zu suchen, auf sie zuzutreten und zu fragen, ob sie es auch sei (wie leicht konnte man an die falsche Person geraten und sich eine Abfuhr holen), und dann die Schwierigkeit im Zug, wenn man nicht wusste, ob man mit ihr sprechen sollte oder, ohne sich um sie zu kümmern, sein Buch weiterlesen konnte!
    Schließlich verließ er Heidelberg. Drei Monate hatte er an nichts anderes als an die Zukunft gedacht; und er ging ohne Bedauern. Er wusste nicht, dass er glücklich gewesen war. Fräulein Anna schenkte ihm ein Exemplar des Trompeters von Säckingen, und er überreichte ihr dafür einen Band von William Morris. Es war sehr vernünftig, dass keiner von den beiden je das Geschenk des anderen las.
    32
     
    Philip war überrascht, als er seinen Onkel und seine Tante wiedersah. Es war ihm nie aufgefallen, dass sie doch eher alte Leute waren. Der Vikar empfing ihn mit der gewohnten, nicht unliebenswürdigen Gleichgültigkeit. Er war ein wenig dicker, ein wenig kahler, ein wenig grauer geworden. Philip erkannte, was für ein unbedeutender Mensch er war. Sein Gesicht war schwach und egoistisch. Tante Louisa umarmte ihn, und Tränen des Glücks strömten ihr über die Wangen, als sie ihn küsste. Philip war gerührt und verlegen; er hatte nicht gewusst, mit welch hungriger Liebe sie an ihm hing.
    »Oh, wie lange du fort warst, Philip«, rief sie.
    Sie streichelte seine Hände und schaute ihm mit frohen Augen ins Gesicht.
    »Du bist gewachsen. Ein richtiger Mann bist du geworden.«
    Auf seiner Oberlippe spross ein kleiner Schnurrbart. Er hatte sich ein Rasiermesser gekauft und entfernte von Zeit zu Zeit mit unendlicher Sorgfalt den Flaum von seiner weichen Haut.
    »Ohne dich waren wir ganz einsam.« Und dann, schüchtern, mit einem kleinen Zittern in der Stimme, fragte sie: »Bist du nicht auch froh, wieder daheim zu sein?«
    »Natürlich, und wie!«
    Sie war so dünn, dass sie fast durchsichtig schien; die Arme, in die sie ihn schloss, waren so zart, dass man an Hühnerknochen denken musste, und ihr Gesicht war von unzähligen Falten überzogen. Die grauen Locken, die sie noch immer nach der Mode ihrer Jugend frisiert trug, gaben ihr ein wunderliches, fast lächerliches Aussehen, und ihr verwelkter kleiner Körper war wie ein Herbstblatt; man hatte das Gefühl, der erste rauhe Wind könnte sie davonwehen. Philip erkannte, dass sie mit dem Leben abgeschlossen hatten, diese beiden stillen alten Leute: Sie gehörten einer vergangenen Generation an, und nun warteten sie geduldig und vielleicht

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