Der Menschen Hoerigkeit
Küken, Louisa«, sagte er. »Sie war beinahe erwachsen, als wir in Lincolnshire waren, und das war vor zwanzig Jahren. Damals trug sie einen Zopf.«
»Sie mag nicht älter als zehn Jahre gewesen sein«, sagte Philip.
»Sie war sicher älter«, sagte Tante Louisa.
»Ich glaube, sie war eher zwanzig«, sagte der Vikar.
»Ach nein, William, höchstens sechzehn oder siebzehn.«
»Demnach wäre sie jetzt weit über dreißig«, sagte Philip.
In diesem Augenblick kam Miss Wilkinson singend die Treppe heruntergehüpft. Sie hatte einen Hut auf, denn sie wollte mit Philip spazieren gehen, und hielt ihm die Hand hin, damit er ihr den Handschuh zuknöpfte. Er tat es unbeholfen. Er fühlte sich verlegen, aber ritterlich. Das Gespräch floss nun schon leicht zwischen ihnen dahin, und sie plauderten über die verschiedensten Dinge, während sie gemächlich umherschlenderten. Sie erzählte Philip von Berlin, und er berichtete von seinem Jahr in Heidelberg. Während des Sprechens gewannen Dinge, die ihm völlig belanglos erschienen waren, einen neuen Wert: Er schilderte die Leute in Frau Professor Erlins Haus und rückte die Gespräche zwischen Hayward und Weeks, die ihm einst so bedeutungsvoll erschienen waren, in ein komisches Licht. Miss Wilkinsons Lachen schmeichelte ihm.
»Ich habe richtig Angst vor Ihnen«, sagte sie. »Sie sind so sarkastisch.«
Dann fragte sie ihn, ob er keine Liebesabenteuer in Heidelberg erlebt habe. Ohne nachzudenken, antwortete er offenherzig nein; aber das wollte sie nicht glauben.
»Wie verschlossen Sie sind!«, sagte sie. »In Ihrem Alter ist das doch gar nicht möglich!«
Er errötete und lachte.
»Sie wollen zu viel wissen«, sagte er.
»Ach, ich wusste es doch«, lachte sie triumphierend. »Wie rot er wird!«
Es freute ihn, dass sie ihn für einen Schwerenöter hielt, und er wechselte rasch das Thema. Sie sollte ruhig glauben, dass er allerhand romantische Dinge zu verbergen hätte. Er ärgerte sich über sich selbst, dass das nicht der Fall war; die Gelegenheit dazu hatte gefehlt.
Miss Wilkinson war unzufrieden mit ihrem Los. Es verdross sie, ihren Lebensunterhalt verdienen zu müssen, und sie erzählte Philip eine lange Geschichte von einem Onkel ihrer Mutter, der sie zur Erbin seines Vermögens eingesetzt, aber schließlich seine Köchin geheiratet und sein Testament geändert hatte. Sie deutete den Luxus in ihrem Elternhause an und verglich ihr Leben in Lincolnshire, wo ihr Reitpferde und Equipagen zur Verfügung gestanden hatten, mit der kleinlichen Abhängigkeit ihres gegenwärtigen Daseins. Philip war ein wenig befremdet, als er später einmal mit Tante Louisa darüber sprach und von ihr erfuhr, dass die Wilkinsons immer nur ein Pony und einen Kutschierwagen gehabt hatten; Tante Louisa wusste auch von dem reichen Onkel, aber da er lange vor Emilys Geburt geheiratet hatte und eigene Kinder besaß, hatte sie sich nicht viel Hoffnung machen können, sein Vermögen zu erben. Miss Wilkinson wusste nicht viel Gutes über Berlin zu sagen. Sie klagte über die Vulgarität des Lebens in Deutschland und verglich es trauernd mit dem Glanz von Paris, wo sie mehrere Jahre verbracht hatte. Sie sagte nicht, wie viele. Sie war Gouvernante in der Familie eines sehr bekannten Porträtmalers gewesen, der mit einer vermögenden Jüdin verheiratet war – und in seinem Hause hatte sie eine Reihe hervorragender Persönlichkeiten kennengelernt. Sie blendete Philip mit ihren Namen. Schauspieler der Comédie Française besuchten das Haus regelmäßig, und Coquelin hatte ihr einmal gesagt, dass er noch nie eine Ausländerin getroffen habe, die ein so tadelloses Französisch spreche wie sie. Auch Alphonse Daudet war gekommen und hatte ihr ein Exemplar von Sappho geschenkt. Er hatte ihr versprochen, seinen Namen hineinzuschreiben, aber sie hatte vergessen, ihn daran zu erinnern. Trotzdem hütete sie den Band wie einen Schatz und wollte ihn Philip leihen. Und Maupassant! Miss Wilkinson lachte und blickte Philip vielsagend an. War das ein Mann! Und was für ein Schriftsteller! Hayward hatte von Maupassant gesprochen, und sein Ruf als Don Juan war Philip nicht unbekannt.
»Hat er Ihnen den Hof gemacht?«, fragte er.
Die Worte wollten ihm nicht recht über die Lippen, aber er fragte nichtsdestotrotz. Miss Wilkinson gefiel ihm zwar schon gut, und ihr Gespräch fand er ungemein anregend, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand sich in sie verliebte.
»Was für eine Frage!«, rief
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