Der Menschen Hoerigkeit
eine Lehrerin von ausgesprochener pädagogischer Begabung und eine ausgezeichnete Gouvernante. Sie besaß Methode und Strenge. Obgleich ihr der französische Akzent in Fleisch und Blut übergegangen war, verschwand all die Lieblichkeit ihres Wesens, wenn sie unterrichtete. Sie duldete keinen Unsinn. Ihre Stimme bekam etwas Entschiedenes, und instinktiv ließ sie keine Unaufmerksamkeit oder Nachlässigkeit durchgehen. Sie wusste, was sie wollte, und zwang Philip, Tonleitern und Übungen zu singen.
Wenn die Stunde vorüber war, nahm sie mühelos ihr verführerisches Lächeln wieder auf, ihre Stimme wurde von neuem weich und gurrend, Philip aber fiel es nicht so leicht, den Schüler abzulegen. Dies passte nicht so recht mit den Gefühlen zusammen, die ihre Geschichte in ihm hervorgerufen hatte. Er betrachtete Miss Wilkinson genauer. Sie gefiel ihm am Abend besser als am Morgen. Morgens sah man ihre Falten, und die Haut am Hals war etwas rauh. Er fand, dass sie sie lieber verstecken sollte, aber das Wetter war gerade sehr warm, und sie trug tief ausgeschnittene Blusen. Sie hatte eine Vorliebe für Weiß, was ihr des Morgens nicht stand. Aber abends sah sie oft sehr hübsch aus. Sie zog dann eine Art Abendkleid an und hatte eine Granatkette um den Hals; die Spitzen an Ausschnitt und Ellbogen gaben ihr etwas Weiches, und ihr Parfüm (in Blackstable benützte niemand etwas anderes als Eau de Cologne, und das nur sonntags oder bei Migräne) war aufregend und exotisch. Dann sah sie wirklich sehr jung aus.
Philip zerbrach sich den Kopf über ihr Alter. Er addierte zwanzig und siebzehn und konnte zu keinem befriedigenden Ergebnis gelangen. Er fragte Tante Louisa mehr als einmal, wie sie draufkäme, dass Miss Wilkinson siebenunddreißig wäre: Sie sah nicht älter als dreißig aus, und jeder wusste, dass Fremde schneller altern als Engländerinnen; Miss Wilkinson hatte so lange im Ausland gelebt, dass sie beinahe als Ausländerin bezeichnet werden konnte. Er, für seine Person, schätzte sie auf sechsundzwanzig.
»Sie ist aber älter«, sagte Tante Louisa.
Philip glaubte nicht an die Genauigkeit der Careyschen Behauptungen. Alles, woran sie sich genau erinnerten, war, dass Miss Wilkinson ihr Haar noch nicht hochgesteckt getragen hatte, als sie sie zum letzten Mal in Lincolnshire gesehen hatten. Nun gut, damals mochte sie zwölf gewesen sein: Es war schon lange her, und auf den Vikar konnte man sich bei diesen Dingen nicht verlassen. Sie sagten, es wäre vor zwanzig Jahren gewesen, aber jeder Mensch nennt runde Zahlen, und es konnte ebenso achtzehn oder siebzehn Jahre her sein. Siebzehn und zwölf machte nur neunundzwanzig, und, zum Teufel, das war doch nicht alt. Cleopatra war achtundvierzig gewesen, als Antonius ihretwegen auf die Welt verzichtete.
Es war ein schöner Sommer. Die Tage folgten einander heiß und wolkenlos, aber die Hitze war gemildert durch die Nähe des Meeres, und es lag eine angenehme Frische in der Luft, so dass man sich durch die Augustsonne nicht bedrückt, sondern eher belebt fühlte. Im Garten gab es einen Teich, in dem ein Springbrunnen spielte; Wasserlilien wuchsen an seinem Rand, und Goldfische sonnten sich an seiner Oberfläche. Dorthin zogen sich Philip und Miss Wilkinson nach dem Essen zurück. Sie nahmen Decken und Kissen mit und legten sich auf den Rasen, in den Schatten einer hohen Rosenhecke. Sie sprachen und lasen den ganzen Nachmittag. Und rauchten Zigaretten, was der Vikar im Hause nicht gestattete. Er hielt das Rauchen für eine abscheuliche Gewohnheit und pflegte häufig zu sagen, dass es für jeden Menschen schimpflich sei, zum Sklaven einer Gewohnheit zu werden. Er vergaß, dass er selbst ein Sklave seiner Teestunde war.
Eines Tages gab Miss Wilkinson Philip La Vie de Bohème zu lesen. Sie hatte es zufällig in der Bibliothek des Vikars gefunden. Es war mit einem ganzen Schub von Büchern eingekauft worden und hatte zehn Jahre lang unentdeckt dagestanden.
Philip fing an, Murgers faszinierendes, schlecht geschriebenes, absurdes Meisterwerk zu lesen, und geriet sofort in seinen Bann. Seine Seele tanzte vor Freude über dieses Bild des Lebens, in dem sich das Elend so gemütlich, die Verkommenheit so malerisch, billige Liebe so romantisch und lächerliches Geflunker so rührend ausnahmen. Rodolphe und Mimi, Musette und Schaunard! Sie spazierten durch die grauen Straßen des Quartier Latin, wohnten mal in diesem Dachwinkel, mal in jenem, in ihren einfachen Louis-Philippe-Gewändern,
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