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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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bereit, das halbe Lehrgeld zurückzuerstatten. Dies gab den Ausschlag, und es wurde bestimmt, dass Philip am fünfzehnten September anfangen sollte.
    »Ich habe also noch einen ganzen Monat vor mir«, sagte Philip.
    »Und dann geht es für Sie in die Freiheit und für mich in die Sklaverei«, erwiderte Miss Wilkinson.
    Ihre Ferien dauerten sechs Wochen, und sie sollte Blackstable nur ein oder zwei Tage vor Philip verlassen.
    »Ob wir uns wohl jemals wieder begegnen?«, meinte sie.
    »Ich wüsste nicht, warum nicht.«
    »Ach, sprechen Sie doch nicht so nüchtern. Ich habe noch nie einen so wenig gefühlvollen Menschen gesehen wie Sie.«
    Philip errötete. Er hatte Angst, Miss Wilkinson könnte ihn für einen Waschlappen halten: Schließlich war sie eine junge Frau, manchmal ganz hübsch, und er selbst ging auf die zwanzig zu; es war absurd, dass sie immer nur über Kunst und Literatur sprachen. Er sollte ihr den Hof machen. Sie hatten eine ganze Menge über Liebe gesprochen. Da war der Kunststudent in der Rue Bréda, und dann gab es den Maler, in dessen Familie sie lange Zeit in Paris gelebt hatte: Er hatte sie gebeten, für ihn Modell zu sitzen, und hatte sie dann so ungestüm zu verführen versucht, dass sie gezwungen gewesen war, Ausflüchte zu erfinden, um ihm nicht noch einmal Modell sitzen zu müssen. Es lag auf der Hand, dass Miss Wilkinson an Aufmerksamkeiten solcher Art gewöhnt war. Mit ihrem großen Strohhut sah sie jetzt sehr hübsch aus: Es war heiß an jenem Nachmittag, der heißeste Tag bislang, und Schweißperlen standen auf ihrer Oberlippe. Er erinnerte sich an Fräulein Cäcilie und Herrn Sung. Er hatte nie begriffen, dass man sich in Cäcilie verlieben konnte, sie war außerordentlich reizlos; aber nun, im Rückblick, erschien ihm die ganze Affäre sehr romantisch. Auch ihm bot sich jetzt die Möglichkeit, etwas Romantisches zu erleben. Miss Wilkinson war beinahe eine Französin, und das gab diesem möglichen Abenteuer noch eine besondere Würze. Dachte er daran – nachts im Bett oder wenn er allein mit einem Buch im Garten saß –, dann fühlte er sich ganz hingerissen; aber wenn er Miss Wilkinson vor sich sah, schien ihm die Sache weniger verlockend.
    Jedenfalls wäre sie nach allem, was sie ihm erzählt hatte, nicht überrascht, wenn er ihr den Hof machte. Vielleicht fand sie es sogar merkwürdig, dass er bisher noch nichts dergleichen getan hatte: Es war möglicherweise Einbildung, aber in den letzten Tagen meinte er einige Male eine Spur von Verachtung in ihren Augen zu entdecken.
    »Einen Penny für Ihre Gedanken«, sagte Miss Wilkinson und blickte ihm lächelnd ins Gesicht.
    »Die werde ich Ihnen nicht verraten«, antwortete er.
    Er hatte überlegt, ob er sie nicht einfach auf der Stelle küssen sollte. Ob sie das von ihm erwartete? Aber ohne jede Vorbereitung konnte er das nicht tun. Sie würde ihn für verrückt halten, ihm vielleicht sogar eine Ohrfeige geben; und womöglich würde sie ihn bei seinem Onkel verraten. Er fragte sich, wie Herr Sung die Sache mit Fräulein Cäcilie angegangen war. Es wäre schrecklich, wenn sie seinem Onkel etwas erzählte: Er kannte seinen Onkel; er würde es sicher dem Arzt und Josiah Graves erzählen, und Philip würde sich fürchterlich blamieren. Tante Louisa behauptete, dass Miss Wilkinson siebenunddreißig Jahre alt wäre und keinen Tag jünger. Er schauderte bei dem Gedanken an die Lächerlichkeit, der er sich aussetzen würde; man würde ihm vorhalten, dass sie alt genug wäre, seine Mutter zu sein.
    »Zwei Pennys für Ihre Gedanken«, lächelte Miss Wilkinson.
    »Ich habe an Sie gedacht«, antwortete er kühn.
    So weit konnte er ruhig gehen.
    »Und was haben Sie gedacht?«
    »Oh, jetzt wollen Sie wieder zu viel wissen.«
    »Sie böser Junge, Sie!«, sagte Miss Wilkinson.
    Da war es schon wieder! Sowie er sich aufgerafft hatte zu handeln, musste sie etwas sagen, was die Gouvernante zum Vorschein brachte. Wenn er seine Übungen nicht richtig sang, nannte sie ihn auch immer scherzhaft einen bösen Jungen. Diesmal wurde er ganz zornig.
    »Ich wünschte, Sie behandelten mich nicht immer wie ein Kind!«
    »Sind Sie böse?«
    »Sehr.«
    »Das war nicht meine Absicht.«
    Sie streckte ihm die Hand hin, und er nahm sie. In der letzten Zeit, wenn sie sich vor dem Zubettgehen von ihm verabschiedete, hatte er dabei zuweilen einen vielsagenden Druck zu spüren geglaubt. Aber er war dessen niemals ganz sicher gewesen. Diesmal konnte es keinen Zweifel geben.
    Er

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