Der Menschen Hoerigkeit
eigentlich nicht Maler? Sie malen so hübsch.«
»Längst nicht gut genug.«
»Lassen Sie das andere beurteilen. Je m’y connais, und ich glaube, dass Sie das Zeug zu einem großen Künstler haben.«
»Können Sie sich das Gesicht von Onkel William vorstellen, wenn ich ihm plötzlich erkläre, dass ich nach Paris gehen will, um Kunst zu studieren?«
»Sie sind Ihr eigener Herr, sollte ich meinen.«
»Sie versuchen bloß, mich abzulenken. Erzählen Sie doch Ihre Geschichte weiter.«
Miss Wilkinson lachte und fuhr fort. Der junge Maler war ihr einige Male auf der Treppe begegnet, und sie hatte ihn nicht weiter beachtet. Sie sah, dass er schöne Augen hatte und sehr höflich grüßte. Und eines Tages fand sie einen Brief unter der Tür hindurchgeschoben. Er war von ihm. Er schrieb ihr, dass er sie seit Monaten anbete und im Treppenhaus auf ihr Vorübergehen lauere. Oh, es war ein bezaubernder Brief! Natürlich antwortete sie nicht; aber welche Frau hätte sich nicht geschmeichelt gefühlt? Und am nächsten Tag kam wieder ein Brief! Er war herrlich, leidenschaftlich und rührend. Als sie ihm das nächste Mal auf der Treppe begegnete, wusste sie nicht, wo sie hinsehen sollte. Täglich kamen die Briefe, und schließlich bat er sie um ein Treffen. Er schrieb, dass er sich am Abend vers neuf heures bei ihr einfinden wollte, und sie wusste keinen Rat. Das war natürlich völlig unmöglich, und er mochte läuten, solange er wollte – sie würde ihm bestimmt nicht aufmachen; und dann, während sie ganz nervös auf das Klingeln der Glocke wartete, stand er plötzlich vor ihr. Sie hatte beim Eintreten vergessen, die Tür abzusperren.
»C’était une fatalité.«
»Und was geschah dann?«, fragte Philip.
»Damit ist die Geschichte aus«, antwortete sie mit einem perlenden Lachen.
Philip war einen Augenblick still. Sein Herz schlug schnell, und seltsame Gefühle tobten in seinem Innern. Er sah das dunkle Treppenhaus vor sich und die zufälligen Begegnungen, und er bewunderte die Kühnheit der Briefe – oh, er hätte nie gewagt, so etwas zu schreiben –, und dann das geräuschlose, beinahe unheimliche Eintreten. Etwas Romantischeres konnte er sich nicht vorstellen.
»Wie sah er aus?«
»Oh, sehr gut. Charmant garçon. «
»Stehen Sie jetzt noch mit ihm in Verbindung?«
Philip fühlte eine leise Gereiztheit bei dieser Frage.
»Er hat mich furchtbar behandelt. Ihr Männer seid alle gleich. Ihr habt kein Herz.«
»Ist das wirklich so?«, sagte Philip verlegen.
»Lassen Sie uns nach Hause gehn«, sagte Miss Wilkinson.
33
Miss Wilkinsons Geschichte ging Philip nicht aus dem Kopf. Es war klar, was sie meinte, selbst wenn sie es nicht deutlich aussprach, und er war ein wenig schockiert. So etwas konnte sich eine verheiratete Frau erlauben – er wusste aus den zahlreichen französischen Romanen, die er gelesen hatte, dass es in Frankreich sozusagen an der Tagesordnung war –, aber Miss Wilkinson war Engländerin und ledig; ihr Vater war Geistlicher. Dann fiel ihm ein, dass der junge Maler wahrscheinlich weder ihr erster noch ihr letzter Liebhaber gewesen war, und er war fassungslos: Daran hatte er nie zuvor gedacht; es schien ihm unglaublich, dass sie von irgendjemandem geliebt werden konnte. In seiner Unschuld bezweifelte er ihre Geschichte ebenso wenig, wie er das bezweifelte, was er in Büchern las, und er war verärgert, dass ihm selbst nie so wunderbare Dinge passierten. Es war demütigend, dass er nichts zu erzählen haben würde, wenn Miss Wilkinson darauf bestünde, er sollte ihr von seinen Abenteuern in Heidelberg erzählen. Er verfügte zwar über einige Phantasie, aber er war sich nicht sicher, ob er sie davon überzeugen könnte, dass er dem Laster verfallen war. Er hatte gelesen, Frauen besäßen weibliche Intuition, und möglicherweise durchschaute sie ihn. Bei dem Gedanken, sie könnte sich ins Fäustchen lachen, wurde er purpurrot.
Miss Wilkinson spielte Klavier und sang dazu mit ziemlich matter Stimme; aber ihre Lieder – von Massenet, Benjamin Godard und Augusta Holmès – waren Philip neu; gemeinsam verbrachten sie viele Stunden am Klavier. Eines Tages fragte sie ihn, ob er eine gute Stimme hätte, und bestand darauf, ihn zu prüfen. Sie sagte ihm, er habe einen sehr angenehmen Bariton, und bot ihm an, ihn zu unterrichten. Zuerst wollte er wegen seiner Schüchternheit nichts davon wissen; aber sie ließ nicht locker, und nun bekam er jeden Morgen nach dem Frühstück eine Stunde. Sie war
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