Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
Stimme sofort, konnte aber nicht reagieren, weder ihr Mund noch ihr Körper gehorchten ihr, sie war wie gelähmt. Sie spürte, wie er die Tür öffnete und die Bahre durch den Gang schob. Es fühlte sich an, als würde sie sich im freien Fall befinden. Jetzt lässt er mich gleich los, dachte sie. Jetzt lässt er mich hier unten verunglücken, stößt mich eine steile Treppe hinunter. Gleich werde ich sterben.
Sie versuchte sich die vielen Abbiegungen, Kurven und langen, geraden Passagen zu merken. Da vernahm sie plötzlich ganz andere Geräusche: Eine Tür wurde geöffnet, Laute von draußen drangen zu ihr, ein Auto, das wegfuhr, Stimmen. Sie |329| mobilisierte all ihre Kräfte, aber ihre Stimme wollte nicht gehorchen. Sie war wie eine lebende Leiche.
Der Kastenwagen.
Das war ihr erster Gedanke, als sie die Schiebetür hörte. Sie erkannte das Geräusch. Dann merkte sie, wie die Bahre in den Wagen geschoben wurde. Ein mobiler Sarg, dachte sie. Damit transportiert er die Toten.
Es vergingen nur wenige Augenblicke, dann wurde die Tür zugeworfen, und er stieg auf der Fahrerseite ein. Die ganze Zeit hatte er kein Wort gesagt. Jetzt drehte er sich zu ihr um.
»Und jetzt fahren wir dorthin, wo du hingehörst.«
Sie versuchte zu schlucken, aber auch diese Muskeln versagten ihren Dienst. Speichel sammelte sich in ihrem Mund, und sie hatte das Gefühl zu ersticken.
Vielleicht war sie auch schon tot.
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Kapitel 49
»Menschliches Gewebe. Keine Organe, sondern menschliches Gewebe.«
Sie starrte auf den Bildschirm, wo sie das Gesetz Nr. 273 aufgerufen hatte, das am 1. April 2006 verabschiedet worden war. Mit all seinen Paragraphen und in der verschlungenen Sprache der Juristen.
»Was zum Teufel ist denn menschliches Gewebe dann? Im Gegensatz zu Organen? Mhm, ich habe dich vermisst.«
Bo beugte sich über ihre Schulter. Er war gerade aus Polen zurückgekommen und eindeutig mehr an dem Gewebe in ihrem Nacken und dem Duft ihres Parfums interessiert.
»Du riechst so lecker, ich könnte dich auffressen.«
Sein Kuss war gierig und barg die Gefahr in sich, einen deutlichen Abdruck zu hinterlassen, was wahrscheinlich auch beabsichtigt |330| war. Männer hatten da offenbar ein größeres Bedürfnis, ihr Revier und Eigentum zu markieren, vor allem wenn sie länger nicht in der Nähe gewesen waren und sicher sein konnten, ob es in feindliche Hände gefallen war.
»Menschliches Gewebe«, belehrte ihn Dicte, da sie schließlich die Nacht mit der Lektüre darüber verbracht hatte, »ist alles. Der menschliche Organismus, alles, was aus Zellen besteht.«
»Aber nicht die Organe?« Bo küsste sie weiter.
»Doch, auch die Organe.«
Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie seine Lippen auf ihrer Haut spürte. Sie hatte zwar kaum Zeit dafür gehabt, aber vermisst hatte sie ihn trotzdem. Der Gedanke, was dieser Kuss wohl für eine Wirkung auf die anderen Organe hatte, streifte sie kurz. Wenn ihr Herz schneller schlug, arbeiteten vielleicht die Nieren auf Volltouren, und wenn sie stoßweise atmete, waren die Lungen beteiligt. Der Entschluss, etwas von ihrem Körper wegzugeben, war in diesem Augenblick unendlich weit entfernt.
»Aber die Organe fallen unter eine andere Gesetzgebung«, erklärte sie und schob ihn auf eine Weise von sich, die ihn nur noch zudringlicher werden ließ.
»Das Gesetz über menschliches Gewebe berücksichtigt Knochen, Haut, Sehnen, Zellen. Sachen, die leichter zu handhaben sind, bei denen auch keiner misstrauisch wird.«
Sie drehte sich zu ihm um. Er war frühmorgens gelandet und sofort in die Redaktion gekommen, wo sie schon lange wieder am Computer gesessen und sich erneut in den Paragraphen vertieft hatte, mit dem aufrichtigen Wunsch, die Zusammenhänge zu verstehen. Das Begreifen hatte sich im Laufe der vergangenen Stunden zögerlich eingestellt.
»Wir verwenden menschliches Gewebe bei allem Möglichen, wir machen uns nur keine Gedanken darüber. Das sind keine aufsehenerregenden Transplantationen von Herzen und Nieren, nein, es geht um kleine Eingriffe wie Transplantationen von Haut, Kieferknochen, Operationen am Knie oder an der Hüfte, so etwas.«
Bos Gesichtsausdruck verzerrte sich vor Ekel.
|331| »Wenn ich mir also beim Fußballspielen eine Sehne reiße, kann es dann sein, dass mir die Sehne eines Toten eingesetzt wird? Oder die Haut eines Toten verpflanzt wird, wenn ich mich verbrenne?«
Sie nickte.
»So was in der Art. Ich weiß nicht, wie man damit hier in Dänemark
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