Der Menschensammler - Dicte Svendsen ermittelt Kriminalroman
verfährt, aber in Ländern, in denen die Gesetze lascher sind, wird das so sein. Denk nur an die schweren Infektionen nach solchen Eingriffen in Lublin.«
»Was für Infektionen und Eingriffe?«
Da fiel ihr ein, dass sie ihm noch nichts von ihrem Telefonat mit der Witwe des ermordeten Arztes erzählt hatte. In knappen Worten holte sie das nach, während sich die Redaktionsräume langsam mit den Kollegen füllten.
»Infiziertes Gewebe«, fasste sie zusammen und senkte dabei die Stimme, damit nicht alle mithören konnten. Eine gute Geschichte musste man hüten wie seinen Augapfel. »Gewebe, das eben nicht den gesetzlich vorgeschriebenen Gesundheitskontrollen unterzogen, sondern ohne Berücksichtigung der allgemeingültigen Bestimmungen entnommen wurde, die vorsehen, dass man den Spender zurückverfolgen kann und vor allem sicher sein kann, dass das Gewebe gesund und in gutem Zustand ist. Also ohne Zulassung der Ärztekammer.«
Bo sah sie verwirrt an. Dann setzte er sich auf die Kante ihres Schreibtischs und sagte übertrieben leise: »Vergiss bitte nicht: Ich bin kein Journalist. Wie könnte man das so ausdrücken, dass es ein einfacher Fotograf auch versteht?«
Da wurde Dicte auf einmal klar, dass sie selbst die ganze Zeit um die Wahrheit herumgekreist war. Sie holte tief Luft und sagte mit der Deutlichkeit einer Titelüberschrift: »Jemand hat den Toten Gewebe entfernt, es ins Ausland geschmuggelt und damit ein Vermögen verdient. Es handelt sich um jemanden oder einen Kreis von Leuten, die in Kontakt zu Krankenhäusern oder Privatkliniken stehen und seit Jahren Zusatzeinnahmen haben, |332| indem sie den Toten ohne die Zustimmung der Angehörigen Knochen, Sehnen und Hornhäute entfernen.«
Bo nickte bedächtig. Aber der Ekel, der ihn überfiel, war überdeutlich.
»Pfui Teufel.«
»Du sagst es.«
»Aber es gibt für alles einen Markt. Warum also nicht auch dafür?«
»Ja, warum eigentlich nicht? Du hast recht. Dort draußen in der Welt muss es einen schwarzen oder vielmehr grauen Markt geben.«
»Handel mit menschlichem Gewebe über die Landesgrenzen hinaus«, formulierte Bo und dehnte jedes Wort. »Also ein illegaler Handel in der Größenordnung von Heroin und Prostitution, aber mit etwas, das leichter handzuhaben ist, sagst du. Warum leichter?«
»Leichter als Organe, die aus dem bis zuletzt lebenden Spenderkörper entnommen werden müssen, was wesentlich aufwendiger ist und auch andere, medizinische Voraussetzungen erfordert«, sagte Dicte. »Die Toten dagegen spüren nichts mehr und können auch niemanden verraten.«
Bo schwieg einen Moment.
»Aber genau das tun sie eben doch.«
Sie stand auf, streckte sich und ging in die Küche, wo sie Kaffee in zwei Becher goss. Bo folgte ihr. Er hatte recht, dachte sie, während sie die Schränke nach der Keksdose durchsuchte.
»Ja, Mette Mortensen hat uns mit ihrem misshandelten Körper so einiges verraten. Und das haben die Opfer im Kosovo und in Lublin ebenfalls getan.«
Sie setzen sich an den runden Tisch und unterhielten sich weiterhin so leise, damit niemand sie hören konnte.
»Aber warum haben sie die Knochen und das Gewebe von ausgerechnet diesen drei Personen entfernt?«, fragte Bo. »Die waren doch noch gar nicht tot.«
»Abschreckung.«
|333| Das war das Einzige, was ihr spontan einfiel.
»Alle drei hatten Verdacht geschöpft. Jeder von ihnen von einer anderen Position ausgehend. Und die Morde sollten den Leuten im »Inner Circle« deutlich vor Augen führen, was ihnen droht, wenn sie nicht dichthalten. Es sollte so abschreckend wie möglich sein, und außerdem hatten sie eine Person, die so etwas ohne Skrupel ausführen konnte.«
Bo lächelte spöttisch.
»Das muss ja der reinste Jack the Ripper sein.«
Sie nickte.
»Makaber, aber wahr!«
»Ein Experte also?«, sagte Bo mit beißender Ironie. »Eine Person, die vielleicht schon hundertfach den Toten die Knochen aus dem Körper herausgeschnitten hat? Glaubst du, dass er als eine Art Vertragsmörder gekauft wurde? Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?«
Sie steckte sich einen Keks in den Mund und zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht gar nicht so weit, wenn man sowieso schon mit dem Business zu tun hat«, sagte sie. »Und schon gar nicht, wenn jemand daherkommt und droht, das eigene Geschäft zu ruinieren. Andere sollen bloß nicht auf dumme Gedanken kommen.«
»Aber wer soll das sein?«, fragte Bo und schlürfte lautstark seinen Kaffee. »Nach wem suchen wir?«
Sie sah Bo an.
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