Der Metzger sieht rot
ich dir versichern, mit deinen schäbigen Sakkos kannst dich dort brausen gehen.“
Er müsse also elegant aussehen, der Willibald Adrian. Um diesem Attribut gerecht zu werden, fehlt dem Metzger allerdings jegliches Talent. Und weil er um seine Schwächen weiß, erscheint ihm die angepeilte Adresse wie ein kleiner Rettungsanker, denn dass der Wollnar garantiert ohne langes Murren das Begleitangebot wahrnehmen wird, steht für den Willibald genauso außer Frage wie seine Verweigerung der Waagrechten. Im Gegensatz zum Zweiten behält er mit dem Ersten recht.
Edgar Zadrolevsky, ein Mann in einem Alter, in dem ein Großteil der übrigen mitteleuropäischen Geschlechtsgenossen längst von der selbst verschuldeten Tatenlosigkeit der jahrzehntelang erwarteten Pensionierung erfolgreich zur Strecke gebracht wurde, arbeitet immer noch und das gerne. Und obwohl er auf den Beinen herumtorkelt wie eine Marionette, deren Fäden dem Spieler ständig aus den Fingern gleiten, stellt er sitzend eine Sicherheit zur Schau, dagegen wirkt die Kunst eines Hochseilakrobaten wie ein Zufallsakt. Präzise, ohne Brille, beweist er eindrucksvoll, dass Alter keineswegs bedeutet, der nächste Maßanzug wäre aus Eichenholz.
„Kommen Sie nur herein, das freut mich aber, dass Sie vorbeischauen!“, tönt hinter dem komplett überladenen Arbeitstisch die beschwingte Stimme des Schneiders zur Tür.
„Der Wagen wird nächste Woche gerichtet, Stoßstange wird von einer anderen Havarie genommen, Arbeitszeit wird er keine verrechnen, der Sohn vom Neffen meiner Esther, Gott hab sie selig. Ist ja eine Familienangelegenheit! Ein bisserl einen Schmattes müssten S’ ihm halt zukommen lassen.
Das sind doch erfreuliche Nachrichten, oder?“
Er lächelt, und in diesem Lächeln steckt eine Zufriedenheit, die Edgar Zadrolevsky nur zustande bringt, wenn er hier, hinter seiner Nähmaschine, den Menschen ihre Kleidung auf den Leib schneidert. Eine ursächliche Tätigkeit, beinahe ein schöpferischer Akt, denn der Bekleidete unterscheidet sich laut Zadrolevsky nur dann vom Nackten, wenn ihn seine Kleidung nicht bloßstellt. Nichts entblößt den Menschen mehr als eine unpassende Garderobe. Unpassend im doppelten Sinne von nicht angebracht und nicht angegossen. Und das wäre keine Frage des Gelds, behauptet er hartnäckig, was natürlich nicht stimmt.
Der Metzger allerdings wird es sich leisten:
„Herr Zadrolevsky!“, beginnt er lang gezogen nach einigen dankerfüllten Aussagen in Wollnar-Vertretung, die Billigstreparatur betreffend, und meint schmunzelnd: „Was brauch ich, um steinreich auszusehen?“
„Na auf jeden Fall nicht unbedingt viel Geld!“
„Sondern?“
„Eine aufrechte Haltung, die kann ich Ihnen leider altersbedingt nicht mehr demonstrieren, ein wenig Wohlstandsspeck, eine gewählte Aussprache, und das Wichtigste, einen perfekten Anzug aus gutem Stoff samt eleganten Schuhen. Kleider machen bekanntlich Leute, und Kleider mach ja ich, also mach ich Leute!“
Er schmunzelt, und diesmal steckt eine Verschmitztheit in diesen hochgezogenen Mundwinkeln, als würde er gerade gedanklich den unförmigen Willibald optisch zum Millionär formen.
„Aussprache und Wohlstandsspeck sind ja schon recht brauchbar, aber die Haltung und der Anzug! Da ist einiges zu tun!“, setzt er fort. „Haben Sie überhaupt einen Anzug oder nur diese jämmerlichen Jacketts und Schnürlsamthosen?“
„Einen Anzug, der mir noch passt, meinen Sie?“
Der Metzger grübelt sich durch seinen Kleiderschrank, streift den Firmlingsanzug, sein erstes derartiges Stück, eilt über den schwarzen Maturaanzug, schummelt sich an den beiden Ausverkaufsstücken vorbei, die er vor Jahren noch auf diversen Versteigerungen tragen konnte, bevor das Missverhältnis zwischen der Spannkraft seines Bauches und der Ausdehnungsfähigkeit des Hosenbundes samt der Sakko-Knopfreihe von schmerzhafter, mit Atemnot einhergehender Unübersehbarkeit begleitet wurde, und landet beim Hochzeitsanzug seines Vaters.
Eines der wenigen Erbstücke. Was ist ein Hochzeitsanzug nach einer Scheidung, geht es dem Willibald durch den Kopf, ein Auslaufmodell. Zu viel Auslauf hat sie ihm lassen, die Metzger-Mama dem Metzger-Papa, obwohl es dann noch Jahre gedauert hat, bis nach dieser ersten und nicht letzten väterlichen Auslaufaktion im fremden Schlafzimmer die Ehe endgültig ausgelaufen war. Und genau diese Jahre des Duldens haben der Metzger-Mama jene Lebenskräfte geraubt, die ihr nach der Scheidung noch
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