Der Meuchelmord
Fassung der Predigt für den St.-Patricks-Tag erarbeitet. Patrick Jameson war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen, und seine heftigen Kopfschmerzen schrieb er mehr der Besorgnis wegen dieser Predigt als dem Mangel an Schlaf und der allgemeinen Erschöpfung zu. Bei jeder neuen Überarbeitung durch den Kardinal wurde die Predigt noch aufsehenerregender, noch kompromißloser als zuvor. Jameson hatte längst alle Versuche aufgegeben, den Text abzumildern. Er hatte verzweifelt die Hände gerungen und dem Kardinal damit nur ein kleines Lächeln entlockt. Dann sagte er: »Gott steh uns bei, Euer Eminenz, ich lasse den Text noch heute abend abschreiben.«
Diese Predigt stellte den schärfsten Angriff gegen eine politische Ideologie dar, den Jameson je gehört hatte, wobei er nicht einmal die Attacken gegen Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg ausnahm. Als vorsichtiger Mann mit einer Abneigung gegen Politik und Politiker empfand Monsignore Jameson diese Kanonade, die der Kardinal am nächsten Morgen gegen John Jackson loslassen wollte, wie einen körperlichen Schmerz. Andererseits war die Verurteilung dieses Mannes von einer tönenden Rhetorik, der sich sein keltisches Gemüt mit seiner Vorliebe für die große Geste nicht ganz entziehen konnte.
Am Abend schrieb er den Text selbst in die Maschine, aß ein Sandwich anstelle des warmen Abendessens, das er eigentlich brauchte, störte seine Verdauung mit vielen Tassen Kaffee, beklagte, was der Kardinal vorhatte, und kämpfte gleichzeitig gegen den Stolz an, der ihn bei dem Gedanken erfaßte, daran Anteil haben zu dürfen. Der lange Arbeitstag machte ihm nichts mehr aus. Er brachte ihn ohne heimlichen Groll hinter sich und empfand ihn nicht mehr so bedrückend wie einst. Regazzi würde er nie ganz verstehen. Der Mann war für ihn wie ein Gewitter. Man sah die Blitze, doch ihr Ursprung entzog sich jeder Analyse. Zuvor hatte er ihn jedoch mißverstanden. Vielleicht waren alle Heiligen so schwierig wie dieser Mann, dachte Jameson. Vielleicht müssen alle, die Gott und ihre Mitmenschen lieben, so abgeschieden und einsam sein wie sein Kardinal.
Die gewaltige Bürde der Verantwortung für jene, die vor den Tribunalen der Macht einen anderen Fürsprecher fanden, ließ ihn natürlicherweise die Bequemlichkeit seiner Mitarbeiter vergessen. Manchmal beschämte er Jameson, indem er ihn zu Bett schickte. Aber das geschah nicht oft, und der Monsignore vermutete, daß sein Kardinal sich dann besonders daran erinnern mußte.
Auch der Kardinal war wegen seiner Predigt besorgt, aber im Gegensatz zu seinem Sekretär fürchtete er nur, darin noch nicht genug zu sagen. Nachdem Jameson die Niederschrift abgeschlossen hatte, machte er noch eine letzte Runde durch die Kathedrale. Einer der Beter schob sich aus seiner Kirchenbank, lief den Mittelgang entlang und stieß ihn dabei unsanft an. Jameson unterdrückte den unchristlichen Impuls, diesen Kerl als einen ungehobelten Klotz zu bezeichnen, und ging durch den Mittelgang der Kathedrale zurück. Der St.-Patricks-Tag war ihm von allen Kirchenfesten das liebste. Er wagte es kaum einzugestehen, aber ihm bedeutete dieser Tag noch mehr als Weihnachten. Seine Eltern waren noch Einwanderer aus der Grafschaft Kerry. Genau wie der Kardinal entstammte er aus einer großen, sehr armen Familie. Aber die heimatlosen Iren waren ehrgeizige Leute: Sie schufteten hart, um der Armut zu entrinnen, die sie von Grund und Boden verjagt hatte. Amerika galt für sie als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ob das nun stimmte oder nicht, sie machten sich entschlossen daran, diese Möglichkeiten zu nutzen.
Jamesons Vater war ein harter Mann, der seine Kinder mit Fäusten und Riemen schlug, aber er arbeitete für seine Familie und ermöglichte drei von seinen vier Söhnen das Studium. Der vierte und zwei seiner Schwestern starben schon in jugendlichem Alter an Lungentuberkulose, der ›keltischen Plage‹. Beim Tod seines Bruders hatte Patrick Jameson die Berufung zum Priester empfunden. Die beiden standen einander als Kinder sehr nahe, und der jüngere wollte immer schon Priester werden. Bei seinem Tod schien er diesen Wunsch auf seinen Bruder übertragen zu haben. Für seinen Vater hatte er Achtung, aber nie Zuneigung empfunden, weil es nicht möglich war, diesen verbitterten, unwissenden und autokratischen Menschen zu lieben. Seine Mutter sah Patrick Jameson als Heilige an. Sie war eine schlichte, sanfte Frau, die stets ihrer Religion und ihrem Ehemann
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