Der mieseste aller Krieger - Roman
Kampfgenossen, ließen keinem die Chance, den Mut zu verlieren. Aus vollem Halse brüllten sie die Parolen, die sie auf ihren Fahnen vor sich her trugen. Nicht ahnend, was im nächsten Moment passieren würde, beobachtete die Tita, in Erinnerung an die Kumpel in ihrem Dorf mit den Dynamitpatronen in der Faust, wie perfekt die Polizei sich trotz der noch friedvollen Demonstranten organisierte. Doch schon kroch Carmelos Blick dicht am Boden entlang, bis er passende Steine fand, die sich rasch in Wurfgeschosse verwandelten. Die Tita war voll der Bewunderung für den athletischen Körper des jungen Mannes. Ich erwähnte bereits, dass dein Vater das Haar lang trug mit einer Strähne, die ihm quer übers Gesicht fiel und sein rechtes Auge bedeckte, nicht wahr? Jedenfalls warf er deshalb ständig mit einer ruckartigen Bewegungseinen Kopf nach hinten. Um besser sehen zu können. Dabei meinte die Tita zu entdecken, dass er ihr ein Lächeln schenkte, aber er sprach sie nicht an, wie sie es sich gewünscht hätte.
Inzwischen marschierten die gegnerischen Parteien aus entgegengesetzten Richtungen über die schnurgerade, staubige Landstraße, die sich wie eine Furche durch Iquique zog, und mussten dort unweigerlich aufeinanderprallen. Die Polizei bildete eine Kette, um unmissverständlich zu signalisieren, dass sie den Demonstrationszug nicht durchlassen würde, doch die Studenten gaben in ihrem Feuereifer nicht nach. Im Gegenteil, sie fuhren fort mit ihrem Geschrei und bewarfen die Polizisten mit Steinen, und als sie sich Auge in Auge gegenüberstanden, zückten die Carabineros ihre Schlagstöcke und begannen mit der Jagd auf Einzelne. Die Menge stob auseinander, jeder war nur noch darauf bedacht, seine Haut zu retten. Und wieder einmal, wie schon so oft in dieser Geschichte, schwebte der unheilvolle Schatten der Aasgeier über die jungen Leute hinweg. Die Demonstranten öffneten also ihre dichtgeschlossenen Reihen und flohen so weit wie möglich vor dem Tränengas.
Die Tita stand plötzlich wie gelähmt inmitten des ganzen Chaos aus auseinanderstiebenden Studenten, Geschrei und fliegenden Steinen. Und da ergriff Carmelo ihre Hand und zog sie in einer halsbrecherischen Flucht hinter sich her. Hin und wieder hielten sie kurz inne, Carmelo bückte sich, um einen Stein vom Boden aufzuheben,den er dann mit aller Macht auf einen Polizisten schleuderte. Andere Studenten taten es ihm gleich, woraufhin der Feind kurzfristig den Rückzug antrat.
Carmelo bemerkte die geröteten Augen und die krächzende Stimme seiner Kameradin. Sofort nahm er seinen Rucksack ab, zog den Reißverschluss auf und kramte eine Zitrone sowie eine aus Zeitungspapier gedrehte Tüte mit Salz hervor. Als Trick gegen das Tränengas, das die Atemwege verschließt, erklärte er, legt man sich eine Zitronenscheibe mit Salz unter die Zunge. Die Tita sah, dass die anderen auch von diesem Trick Gebrauch machten, und nahm gehorsam das Gegenmittel. Gleich darauf brach die nächste Welle herein, ein Geschrei und Gerenne tobte um sie herum, das sie nicht verstand. Woher waren mit einem Mal all diese Polizisten gekommen? Sie erstarrte, als sie beobachtete, wie brutal die Carabineros über die Studenten herfielen, den am Boden Liegenden traten sie in die Seite und droschen mit ihren Schlagstöcken auf sie ein. Plötzlich stand ein Polizist vor ihr. Sie hielt sich schützend die Arme über den Kopf, doch bevor der erste Schlag sie treffen konnte, packte sie jemand am Arm und riss sie fort. Wieder war es Carmelo, der sie in einem rasanten Wettlauf mitschleifte. Die Tita erzählte mir später, dass sie einen ihrer Verfolger so nah im Rücken gespürt habe, dass sie glaubte, in der nächsten Sekunde packe er sie an den Haaren. Sie erfuhr nie, ob ihr Häscher freiwillig aufgab oder vor einem Steinhagel zurückwich.
An Carmelos Hand rannte die Tita noch einige Häuserblocksweiter. Dann bogen sie in eine Seitenstraße ein und flüchteten sich in einen Toreingang. Und da wusste die Tita, dass es um sie geschehen war. Sie fand ihn charmanter denn je, und sie begriff, warum die Mädchen scharenweise hinter ihm her waren. Er hatte makellose Zähne, und seine Stimme schien seinem Atem Frische zu verleihen. Als sie glaubten, der Tumult habe sich gelegt, trennte Carmelo sich für einen Moment von ihr und ging zur Ecke vor, um sich zu vergewissern, dass sich kein Polizeinachzügler mehr in der Nähe herumtrieb. Da sah er die beiden Anführer, seine Freunde, auf der anderen Straßenseite
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