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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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würde.
    »Ich kann den Herzog nirgends entdecken«, sagte Burkhard. »Warum wird er nicht aufgerufen? Er müsste doch dem Kaiser als einer der Ersten folgen.«
    »Das ist eine zu lange und zu komplizierte Geschichte«, erwiderte Hartmann und griff den Wollsack auf, in dem er seinen Roman transportierte. »Komm mit! Wir wollen uns die Beine vertreten.«
    An einer Laube füllten sie ihren Trinkschlauch mit
Fruchtmost auf und tranken abwechselnd aus ihm. Sie ergatterten an einem Stand ein Päckchen mit Honiggebäck und rissen es sofort auf. Gemütlich schlenderten sie an einer Akrobatenbühne, einem Tanzanger und einem Hindernisparcours aus mechanischen Geräten vorbei.
    »Wo findet der Dichterwettstreit eigentlich statt?«, fragte Burkhard und fegte sich einen Krümel aus dem Mundwinkel.
    »Stromabwärts in den blauen Zelten!«, erwiderte Hartman kauend. »Über den Eingängen sind Holztafeln angebracht, auf denen eine Schreibfeder, ein Tintenfass und ein aufgeschlagenes Buch abgebildet sind.«
    »Und wie soll der Gewinner ermittelt werden?«
    »Leider gibt es keine Gutachter, welche die Verse oder die Inhalte beurteilen. Die Dichter tragen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen aus ihren Werken vor. Wer am Ende die meisten Zuhörer gewonnen hat, streicht den Sieg ein.«
    »Ich glaube, ich weiß, was du vorhast. Ich möchte dich bitten, es nicht zu übertreiben.«
    »Keine Angst, Burkhard. Die Edelleute werden nicht merken, dass ich nicht sie, sondern die Tat anpreise.«
     
    Hartmann hatte um einen Tisch gebeten, auf dem er den Roman ablegen konnte. Wenn er den Faden verlieren würde, könnte er so die Stelle mühelos nachschlagen. Immer wieder blickte er in die erwartungsvollen, skeptischen oder auch teilnahmslosen Gesichter seines Publikums.
    Normalerweise bestand die Kunst der Nachdichtung in der Variation. Mit eigenen Schwerpunkten und Worten wurde die gleiche Geschichte erzählt, so dass sie einen persönlichen Anstrich erhielt. Hartmann hatte hingegen
etwas völlig Neues geschaffen. Im Gegensatz zu Chretien, der sich auf die äußere Handlung beschränkt hatte, gab er dem schillernden Bericht den Vorzug. Als Erzähler war er viel präsenter und zeigte die Gefühle und Gedanken der Protagonisten auf, kommentierte Situationen und vermittelte zwischen Werk und Leser. Sein Roman umfasste zehntausend Verse und war damit doppelt so lang wie die Vorlage. Weil etwas Vergleichbares im deutschen Sprachraum nicht bekannt war, konnte er nicht ermessen, wie sein Roman ankommen würde.
    In der ersten Reihe saßen die Zähringer: Berthold, Ida, Bruder Stephan, der Marschall und Burkhard. Sogar der Thronfolger hatte sich eingefunden. Niemand wusste, wann er in Mainz eingetroffen war. Der Vorhang wurde zur Seite geschoben und einige Nachzügler schlüpften noch ins Zelt; die Männer begnügten sich mit einem Stehplatz, für die Damen wurde auf den Bänken zusammengerutscht. Als der kaiserliche Soldat das vereinbarte Handzeichen gab, erhob sich der Herzog aus seinem Sessel und hielt eine kurze Ansprache. Hartmann war viel zu aufgeregt, um den Sinn zu erfassen. Zum Dank verbeugte er sich bei seinem Herrn und begann mit dem Vortrag, auf den er ein halbes Jahr lang, jeden Tag, von morgens bis abends hingearbeitet hatte.
    Zunächst befürchtete er noch, unterbrochen zu werden und eine Erklärung abgeben zu müssen, warum gerade er, ein Gemeiner aus bescheidenen Verhältnissen, das Vorrecht haben sollte, vor so vielen Edelleuten zu sprechen. Als er jedoch beobachtete, wie die Herrscher an seinen Lippen hingen, wie sie alle einander im Lachen übertrafen, wenn er einen Scherz machte, wich seine Unsicherheit.
Die Routine von hunderten Auftritten als Minnesänger stellte sich ein und hauchte seinem Vortrag Leben ein. Am Gesichtsausdruck der Edelleute erkannte er, wie seine Beschreibungen Bilder vor ihr geistiges Auge pflanzten. Seine Stimme hob und senkte sich. Bald klang sie so melodisch, dass die Zuhörer sich schon bereitmachten, in ein Lied einzustimmen, bald formte sie die Dramatik des Geschehens aus. Als Erec einen Schwerthieb auf den Helm erhielt, sank Hartmann in die Knie und warf die Arme von sich, seine Augen weiteten sich und blickten unschuldig empor. War die Zeit schon gekommen, um Enite Lebewohl zu sagen? Nein, das durfte nicht sein! Sie hatten sich doch eben erst gefunden! Die Fürsten im Zelt griffen nach ihren Schwertern, um Erec zur Hilfe zu springen; ihre Frauen drückten die Fäuste gegen die Münder und seufzten vor

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