Der Minus-Mann
Gängen und Gittern und Posten mit Gewehren und Pistolen.
Lautloses Sickern in das Nächstwerdende. Violette Streifen am Unterrand meiner Lider. Gelbes Licht und Tageslicht und roter Schatten des durchbluteten Lides. Ein violetter Schein, eine zerfranste Farbleiste als Gedankencolor. Farbe aus der Farblosigkeit der Umgebung. Leere Flächen zerfließen zu dunklen Landschaften. Veränderung des Bewußtseins durch Nichtgeschehen. Braune, stumpfe Ölfarbe an den Wänden, meine Fingernägel sind abgebissen, der Gestank des Atems klebt wie Plastik am Gaumen. Wieder ein Tag.
Der vierte Tag. Fasttag. Das Brot ist speckig. Ungelenk und steif schiebe ich den Strohsack durch die Öffnung im Gitter. Dann Schlüssel, klirren sperrend. Der Tag kriecht in mich. Gehen und zählen. Mit dem Fingernagel ritze ich Sätze in die Wand. Ich bin gleichgültig, stumpf. Fünf Schritte, Wand – fünf Schritte, Gitter, ein Versuch unter den Füßen, Zeit zu zertreten. Blechschalen fallen am Gang zu Boden. Undeutlich höre ich Stimmen vor der Zelle.
»Es regnet sehr stark«, sagt der Beamte, der Faltige. Ich kenne seine Stimme. Wo regnet es? In einem anderen Leben. Mit Menschen und Regenschirmen und hellem Lachen in warmen Räumen.
Meine Sprache ist vergessen, mein Mund verleimt. Ich habe nichts als das Fleisch auf den Knochen, Bartstoppeln im Gesicht, verdreckte Fetzen am Körper. Mein Gehirn ist zerquetscht. Meine Hände sind schorfige Stümpfe, mein Gehirn ein Klumpen Scheiße,
meine Seele ein Furz. Die Beine sind rastlose, selbständige Automaten.
Der fünfte Tag. Schwarzes, ekliges Wasser, der Kaffee.
In Gedanken schreibe ich einen Brief. An wen? Ich weiß es nicht: Ich bin in der Höhle. Ich lebe in dieser Höhle, atme und warte. Warte auf euch. Nun, nach langer Zeit, weiß ich, daß mein Warten vergeblich ist. Ich sitze im düsteren Licht zwischen den Steinen und schaue gegen die Wände. Manchmal ist Hoffnung in mir, es würde einer von euch zu mir finden. Wenn aber der Tag dann zur Neige geht und niemand an der Schattenlinie zur Oberwelt aufgetaucht ist, wird mir bewußt, daß ich vergessen bin. Der Weg zu mir her ist anstrengend und ermüdend, vielleicht will ihn deshalb niemand gehen. Viele Tage warte ich schon auf einen Laut, eine Bewegung, doch es scheint, dies soll nie geschehen. Ich habe zwar keine Eile, denn ich bin für viele Jahre in die Höhle verbannt, trotzdem würde ich gerne jemanden ansehen oder mit jemandem sprechen. Mein Körper gewöhnt sich nicht an die Lichtlosigkeit, mein Geist kaum an die Einsamkeit. Ich stehe auf einem Fleck im Raum, bewege mich nicht mehr, weil ich auch auf allen anderen Stellen schon lange gestanden habe. Ich versuche an die Zeit zu denken, in der ich noch nicht in der Höhle war, doch die Erinnerung bleibt leer. Belanglose Situationen wiederholen sich in meinem Kopf.
Ich sehe die Muskeln von meinen Knochen schwinden, verliere die Sprache und das Gehör, bleibe weiter im Dämmer, schmecke die faulige Luft um mich, den rauhen Stein. Mein Körper läßt mich nicht spüren, daß ich es bin, der Geist verweht in Unbestimmtheiten.
Bald bin ich nichts mehr, nicht mehr Sehnsucht nach irgend etwas hinter den Felsen, jenseits der Steine – bin ich schon Staub in den Spalten meiner Höhle, grau auf den groben Poren.
Der sechste Tag. Die grelle Klingel gräbt sich in die Schlafwärme. Gestank und Kälte springen ins Bewußtsein.
Kaffee. Ein Kübel Wasser und ein Wischtuch für den Boden. Ich stelle den Kübel wieder auf den Gang zwischen Gitter und Türe. Der Beamte schreit. Ich höre nicht zu. Er schließt ab. Gehen mit steifen Gelenken. Hinsetzen ist sinnlos. Der Boden ist zu kalt. Stille am Gang. Die Lautlosigkeit drückt mich gegen das Metall. Irgendwann Mittag und Topfenhörnchen, wäßrig und kalt. Wasser, dann hocke ich mich auf den Abtritt und scheiße mir den sechstägigen Stau aus den Därmen. Dann gehe ich und denke nichts, und später denke ich dann wieder. Eine Spinne kriecht aus einem Loch in der Mauer, läuft planlos auf und ab. Sie verschwindet unter der Metallplatte vor dem Heizkörper. Liegestützen, Kniebeugen und Keuchen in der verbrauchten Luft.
›Ich liebe Trixi‹ ist unbeholfen unter dem Fenster in die Wand gekratzt und ›Ferdl‹ darunter. Warum nicht? Warum soll er sie hier in dieser modernen Folterkammer nicht lieben, wenn es ihm hilft? Daneben trommelt einer gegen die Tür. Trommelt und trommelt. Lajos.
»Leck mich am Arsch«, sagt der Faltige, wahrscheinlich zu
Weitere Kostenlose Bücher