Der Minus-Mann
Nächte. Ins Warten. Ins Hoffen. Sie ist unbestimmt. Nicht festzunageln, nicht einzukreisen, nicht zu ertragen, nicht mit Vernunft und kühler Logik, nicht mit Schmäh und Aggressivität. Sie bleibt und ist wirksam und zäh. Sie zermürbt, höhlt aus, unterminiert, zerstört.
Sie frißt die Haut von den Händen, den Füßen. Frißt die Iris, das Trommelfell, bricht in die Achselhöhlen, die Eier und die Nieren, drückt auf die Gedärme, das Großhirn und die Blase, krampft in Muskelfasern, lähmt Nervenbahnen und Gehirnwindungen. Verstopft Poren, Drüsen und Arterien, schwächt den Kreislauf, blockiert die Atmung, tötet die Spermen.
Der Schweiß, die lastende Zeit, das Schnarchen des anderen im Nebenbett. Das Furzen und Husten, die knarrende Pritsche, die Gitterkreuze vom Scheinwerfer grell an die Wand geworfen, die Gedanken an die kalte Schwärze gepreßt.
Es gibt Möglichkeiten zu entkommen. Sie vergiften sich mit Schlafmitteln. Sie hängen sich auf. Sie zerschneiden sich die Arme, den Hals und den Bauch. Sie schlucken Draht und Blei, Rasiermesser und Nägel. Sie stecken sich dutzende Nadeln in die Haut und spritzen Benzin in die Lungen.
Sie ziehen einen Zwirn durch die Scheiße und nähen sich einen Knopf ans Knie. Sie brechen sich die Knochen und laufen gegen die Wände. Dann hocken sie in Zwangsjacken und Beruhigungszellen, liegen in Gitterbetten und auf Operationstischen. Mit leeren Augen schreien sie stumm von ihrer Angst, ihrer Einsamkeit und ihrem Versagen. Sie bleiben allein und wissen es. Sie kennt man, ihr Versagen ist offensichtlich und unappetitlich. Unbrauchbare Psychopathen. Strandgut aus dem Zuchthaus.
Die anderen? Sie machen ihre Strafzeit ruhig und ohne Komplikation für das Personal. Sie, sie kommen wieder. Sie sitzen ruhig in ihren Zellen. Schweigen und warten. Warten auf Post, das Aufsperren, den anderen, bestimmten da draußen. Warten, dahinleben, weil irgendwann die Entlassung folgt, die zeitliche Fixation. Das Ziel, abstraktes Irgendwann, konkret nur das Datum.
Dann gehen sie. Vom falschen Platz, mit falschen Hoffnungen, in keine Zukunft. Von zehn kommen acht wieder.
Ihr da draußen brecht sie in Stücke und seid unangenehm überrascht, wenn die Trümmer vor euch liegen. Ihr wißt nichts von den Randgebieten, in denen wir leben. Ihr wißt es nicht, und es interessiert euch nicht, noch nicht.
Ich fühle mich klebrig, dreckig und stinkend.
Der dritte Tag. Die laue, schwarzfarbene Brühe, das Gitter klirrt ins Schloß. Ich bin allein. Ein Augenblick hockt hinter dem nächsten. Stille, Lautlosigkeit. Stinkendes, nicht Vorhandenes. Eine Zeit, eine Langeweile über die Stunden. Der Tag stirbt. Lautlos bewegt sich der Spion an der Tür. Ein Auge glotzt, verschwindet. Es ist zehn oder zwei Uhr. Ich stehe, denke, erinnere. Quäle mich durch unzählige Warum, sehe nur mein Leid, meinen Kerker. Krabbelnde Bürsten. Millionen spitze, winzige Haken in und unter der Haut. Der Dreck, die Nervosität juckt, peinigt. Sonst ist nichts, geschieht nichts. Ein Husten, ein dumpfer Laut, dann ein Seufzen. Schritte und Klammern an den Stäben. Ich lebe kaum, ohne Sinn, ohne Empfindung. Nur Lauschen ist da, das Harren in Stille, in warmer Leblosigkeit. Eine Stunde atmen, ein Schluck aus der Wasserleitung, eine weitere Stunde atmen ohne Müdigkeit. Der Geist liegt tief im Schacht des Körpers. Regloses Spüren zur Leuchte, unsichtbar hinter dem dreckverklebten Fenster. Kein Hall, nichts. Flach an das Eisen gepreßt, die Hände verschränkt. Es ist kalt. Die Hände sind naßkalt. Ein Flugzeug dröhnt außerhalb. Der Ton verfällt. Noch, und schon nicht mehr hörbar. Kein Geräusch, nichts, eine Stunde ist vergangen. Wieder das Auge im Loch in der Türe. Zurück zu den Erinnerungen, stochern im Emotionsschorf. Schmerz und Freude sind ununterscheidbar. Ich krieche in die selbstgezimmerte Höhle, den Ego-Bunker. Meine Lider senken sich, ich spüre den schwachen Schweißfilm unter den Achseln, den Atem, die Herzschläge; bin in der bewachten Einsamkeit, der letzten Zuflucht. Alle sind sie draußen. Fertige Gedanken und Fantasien laufen über den Bildschirm hinter der Stirn in eigener unfehlbarer Regie. Bloß Zeit wegschaffen, wie ist egal. Nachts schweigt die Kritik, der Traum regiert, passiv befreiend. Muskeln lockern sich, der Bauch wird weich, die Seele schläft.
Im Tageslicht aber fettet die Haut, jede Aktivität schwindet, dann verdorrt die Fantasie.
Eine Sirene heult. Dissonanz zwischen Steinen und
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