Der Minus-Mann
den Nebel vor meinen Augen zu lichten.
Ich gehe zu ihr. Nach einigen Tagen zu ihren Eltern. Man sitzt da – schweigt sich ins Gesicht –, fünf Jahre Gefängnis lähmen die Kommunikation.
»Sechs Jahre war sie verlobt, mit dem Klaus. Im Frühjahr wollten sie heiraten … ich weiß nicht, was ich da sagen soll«, sagt die Mutter.
»Wir lieben uns«, sagt das Mädchen und »wir wollen heiraten.«
»Ja«, sage ich auch. Ich habe sogar einen Job. In einer Papierfabrik, im Auslieferungslager, als Mitfahrer. Ist ebenfalls ein Bücken-und-Heben-Job, jedoch mit mehr Pausen dazwischen und besserer Bezahlung. Es wird geheiratet. Alles geschieht etwas überstürzt, Mutter fragt: »Hast du das auch überlegt?«
»Nein«, sage ich.
Heirat in Weiß, mit riesiger Schleppe und Tränen bei der Verwandtschaft, ihrer, von meiner Seite aus gab es nur Mutter.
Eine Wohnung haben wir uns gemietet, in Floridsdorf, am Rand der Welt, zwanzig Meter neben der Tafel ›Stadtende von Wien‹.
Allfällige Probleme lösen wir im Bett. Alles läuft glatt, geschmiert, in Geleisen, dem Geländer entlang. Ich arbeite, schließe eine Lebensversicherung ab, dann geben wir die Wohnung auf, ziehen zu ihren Eltern. Ich gehe mit dem Pudel spazieren, gewöhne mich an den Fernseher, ans Bier, meinen Schwiegervater und höre langsam aber sicher auf, zu existieren.
Alles findet mich nett und bezaubernd … ›man sieht es ihm doch gar nicht an, daß er so lange …‹ Manchmal, wenn mir alles zum Hals heraushängt, saufe ich mich an, aber auch da mit Maß. Dann Weihnachten, alles in Liebe, Geschenke und der unvermeidliche Karpfen, die Sängerknaben und … last not least die Mitternachtsmette in der nahen Pfarrkirche.
Beim Rasieren werde ich mir täglich fremder, bin aggressiv und trinke; nun nicht mehr Bier, sondern Whisky und Jamaikarum. Meine Muskeln sind steinhart, meine Schwiegermutter kocht fantastisch.
»Du wirst Vater«, sagt sie mir, als ich von der Arbeit komme. Es ist Anfang März, und ich gebe sofort meine Arbeit auf.
Die Firma ist erfreut, nachdem ich bereits zwei Leute blutig geprügelt habe. Abends sitze ich in Lokalen, trinke.
Meine Schwiegermutter kauft ein Auto. Ich reiße mich zusammen, über meinen Schwiegervater bekomme ich einen Job bei einer Spedition – Lastenkuli mit Aufstiegsmöglichkeiten. Ich fahre mit dem Wagen in die Arbeit – mein Auto ist das größte –, abends gehe ich in die Fahrschule. Manchmal besaufen wir uns beide, mein Schwiegervater und ich. Er ist ein alter, fremder Mann, ›und nach vierzig Jahren in der Firma wurde ich geehrt und bekam eine Sondergratifikation‹, mit unwahrscheinlichen Fähigkeiten im Reparieren häuslicher Pannen, vom Durchlauferhitzer bis zum Pudelfieber schafft er alles, und im Sparen. Meine Schwiegermutter lobt ihn. »Hundert Schilling kriegt er pro Woche, da kauft er sich seine Zigaretten, seine Wochenkarte für die Tram, und immer bringt er am Freitag eine Kleinigkeit mit«, sagt sie zu mir, der mit hundert Schilling nicht eine Stunde auskommt.
Zu dem werdenden Kind fehlt mir jede Beziehung.
»Wie soll es heißen?« fragt meine Frau.
»Irgendwie, es ist mir egal«, sage ich. Der Kittungsversuch mit dem Kind ist in die Hose gegangen. Sie hat eben auch das als das Letzte versucht.
Unsere Ehe wird zur Farce. Manchmal komme ich bloß zum Umziehen nach Hause.
Dann kommt Cha-cha, ein Mädchen.
Ich kreuze einen Fußgängerweg mit dem Auto. Es ist sehr dunkel, und ich stoße sie beinahe nieder. Ich wende den Wagen, fahre ihr nach. Beim Landstrasser Bahnhof erreiche ich sie, ich steige aus.
»Verzeihen Sie, ich habe Sie nicht erschrecken wollen … darf ich Sie irgendwohin bringen?«
Ein schmales, unregelmäßiges Gesicht unter einer frechen, roten Kappe, rotes Kleid, offener, roter Mantel, hübsche, schmale Beine. Sie steht da, lächelt sehr kühl.
»Danke, ich wohne gleich um die Ecke«, sagt sie und wendet sich zum Gehen.
Ich suche nach Worten. Wo ist der Schmäh, der hier zieht, ich habe ein leeres Hirn, also dann eben trivial.
»Ich möchte Ihnen nicht auf die Nerven fallen, aber darf ich Sie nicht wenigstens auf einen Kaffee einladen«, sage ich, mit Pausen.
»Also, wenn Sie unbedingt wollen, gut«, sagt sie.
Ich fahre durch die Stadt, plötzlich fällt mir ein, ich habe nicht einen Groschen bei mir. Ich hatte mir nur vier Zehner für Batterien und Blitzlichter, die ich am Automaten geholt habe, eingesteckt.
»Ich kenne da auf der Höhenstraße, am Kahlenberg, ein
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