Der Minus-Mann
versprochen, ihn abzuholen. Er wird heute, am fünfzehnten November um acht Uhr früh entlassen. Es ist sechs Uhr früh. Die leichte Trunkenheit stört mich nur wenig beim Fahren. Die Straße ist leer. Nebelbänke liegen über dem Wagram. Ich fahre langsam. Nasses Laub liegt über die Fahrbahn geschmiert. Knapp vor sieben halte ich vor der Strafanstalt. Ich kurble das Fenster herunter und zünde mir eine Zigarette an. Beamte hasten dem Eingang zu. Keiner erkennt mich im diesigen Licht. Der breitarschige Major radelt durch das Tor. Der Posten reißt die Hand gegen die Mütze. Die Nachtdienstbeamten verlassen einer nach dem anderen das Tor. Einer zögert, kommt zum Wagen.
»Jössasna, Se san des«, sagt der Ruschi, nervös und hastig wie eh und je.
»Ich warte auf den Marik«, sage ich.
»Do sans z’spät kumma, sei Bruada hot den glei noch sexe mitn Auto ghoit«, sagt er. Ich zucke die Achseln. Sein kälterotes Gesicht verschwindet. Müde lege ich den Gang ein, fahre im Schrittempo die wenigen hundert Meter in die Stadt. Ein Mädchen geht am Fahrbahnrand. Ich halte an.
»Ich bin müde und möchte einen Kaffee trinken, wo ist um diese Zeit offen?« sage ich. Braunes, langes Haar, ein hübsches Dutzendgesicht. Sie lächelt.
»Nehmen Sie mich mit, ich zeige es Ihnen«, sagt sie. Ich öffne, sie steigt ein. Sie ist frisch, die Probleme sind vergessen. Ich fahre mit ihr in die Umgebung. Sie ziert sich nicht, lutscht ungeschickt an meinem Schwanz. Nach dem Spritzen schmeiße ich sie aus dem Auto.
Wohin treibe ich? Was ist mit Cha-cha … warum läßt es mich gleichgültig, in den letzten Tagen war ich nur in Lokalen, wo die Polizei regelmäßig Razzien macht … was will ich eigentlich?
Cha-cha ist blaß und verweint. Ich gehe zur Donau, starre in den trüben Strom. Schmutzige Schaumblasen quellen aus den Wellenkämmen. Der schneidende Wind treibt schwere Wolken, irgendwo trinke ich weiter. Cha-cha schaut mir ängstlich entgegen. Schweigend ziehe ich mich aus. Die Müdigkeit deckt ihren Blick zu. Nicht denken, schlafen. Sie steht beim Fenster. Ihre Gestalt verschwimmt in der Dunkelheit, ich schaue auf meine Uhr am Handgelenk. Zwei Uhr früh. Ich habe vierzehn Stunden geschlafen.
»Komm ins Bett«, sage ich. Sie bewegt leicht die Schultern, spricht gegen das Glas.
»Warum haßt du mich … oder dich so sehr … du bringst uns damit um … jetzt wirst du aufstehen und trinken … ich sehe dich, wie du mit dem Glas spielst, es gleichgültig anschaust, dann langsam trinkst … ohne Gier scheinbar … jemand sollte versuchen, dir das Glas aus der Hand zu schlagen … du würdest ihn umbringen … wenn du noch stehen kannst … manchmal, wenn du so betrunken durch die Straßen fährst, wünsche ich mir, du würdest gegen eine Mauer oder einen Baum rasen … dann wäre es vorbei … wir wären tot.«
Ich zünde mir eine Zigarette an. Ich schaue zu der Wodkaflasche neben dem Spiegel. Sie hat recht … ich möchte aufstehen, trinken … dieses miese Hotelzimmer vergessen … mir die Fortsetzung dieser Scheiße im Kino ansehen oder erzählen lassen … ich habe keine Antwort für sie. Sie setzt sich an den Bettrand. Spricht lange in die Schwärze zwischen uns. Ich schlafe dann ein.
Am Vormittag hole ich ihr etwas zu essen. Sie lächelt angestrengt.
»Das Liegen hat mir gutgetan, abends geht es schon wieder«, sagt sie schwankend. Ich schaue aus dem Fenster. Winzige Flocken torkeln gegen die Scheiben. Es schneit.
Ich trinke und warte, bis Cha-cha mit dem Bemalen fertig ist, dann fahren wir. Beim Brunnen am Neuen Markt steigt sie aus.
»Du wartest im Wienerwald, vielleicht wird es später«, sagt sie und küßt mich.
»Dann bin ich im Park Cafe«, sage ich und biege in die Kärntner Straße ein.
Cha-cha habe ich für zwei Monate zum letztenmal gesehen. Eine Stunde später wird sie von der G. M. (Geheimprostitution und Mädchenhandel) verhaftet und ins Polizeigefängnis gebracht. Am nächsten Tag stellt der Arzt bei ihr einen Tripper fest, und sie wird in die Heilanstalt nach Klosterneuburg gebracht … am Weihnachtstag wird sie entlassen …
Ich sitze im Wienerwald und warte auf sie. Ich bin in das Lokal im dritten Bezirk ausgewichen, im ersten Bezirk, in der Annagasse, ist mir zuviel Polizei. Die unauffälligen Herren im knautschfreien Anzug. Später schlendere ich ins Park Cafe, dann ist es vier Uhr, und Cha-cha hat sich noch immer nicht gemeldet. Wahrscheinlich ist sie verhaftet, wollte nicht mehr.
Ich setze
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