Der Minus-Mann
nichts zu tun, wenn Sie wollen, fahr’ ich Sie nach Hause«, sage ich und drücke meine Zigarette aus.
Sie zögert, sucht eine Ausflucht. Ich bezahle. Wir gehen. Die Servicestelle ist nahe. Auf der Simmeringer Hauptstraße ist Kolonnenverkehr. Sie raucht hastig und unbeherrscht. Autos gleiten wie an Bändern gezogen vorüber.
Ich achte auf den Verkehr, sie schweigt. Ihre Beine sind schlank im kurzen, roten Rock. Schmale Kerben laufen von den Nasenflügeln zum Mundwinkel. Die Lippen weich, geteilte, blasse Hautlilien. Schlanke, schlecht gepflegte Finger. »Ich lass’ mich nicht angreifen«, sagt sie plötzlich mit schmalgezogenen Lippen.
»Das hatte ich auch nicht vor«, sage ich und schaue ruhig zu ihr.
»Dann wären Sie der erste!« sagt sie scharf. Ich fahre zum Straßenrand.
»Bitte«, sage ich. Sie putzt sich die Nase, schaut, langsam lichtet sich der Schrecken.
»Entschuldigen Sie, aber ich …«, sagt sie stockend. Der Wagen rollt. Sie knetet das Taschentuch zwischen den Fingern. Endlos zieht sich die Mauer des Zentralfriedhofes an der rechten Seite der Straße. Das Land zum Flughafen hin ist glatt und öde. Sie schweigt beharrlich. Alleen und braune und braungraue Felder.
»Ich möchte hier essen«, sage ich in Deutsch Altenburg. Sie nickt verlegen. Es gibt Wels, mit Kräutersauce, der Wein ist hell, blaßgolden. Ihr Lächeln ist still und zurückgezogen. Über der Donau hängt ein schwacher Dunst.
Ich bezahle, wir steigen ins Auto.
»Kann ich hier aussteigen«, sagt sie hinter dem Stadttor, auf einem kleinen Platz. Sie dreht sich zu mir.
»Warum haben Sie das … so getan«, sagt sie. Das Licht spiegelt auf ihrem Haar. Sie kramt in der Handtasche, dann kritzelt sie auf einem Stück Papier.
Ich rauche und warte, daß sie aussteigt. Sie legt kurz ihre Hand auf meine, dann geht sie.
›Danke‹ steht auf dem Papier, ein Name und eine Telefonnummer. Ich zerknülle den Zettel und werfe ihn aus dem Fenster. Das Ich im Du hat keine Telefonnummer, nur große verschreckte Augen.
Schnell fahre ich nach Wien zurück. Triste hängen die Zweige der Sträucher über dem schwarzgrünen Wasser. Hundescheiße liegt herum und ein blauer Kinderfäustling. Die Bänke stehen leer und aufdringlich da. Laub klebt an meinen Schuhsohlen. Die Wege am Teich sind menschenleer. Es ist halb drei. Ich suche ein Telefonhäuschen.
»Es ist kalt, und ich habe eine Stunde gewartet«, sagt die Frau bedrückt.
»Leg die Kleine in die Tragtasche und komm«, sage ich, »ich warte bei der Schnellbahnbrücke.«
»Ich hab’ solche Angst. Was wird jetzt«, sagt sie. Unten wälzt sich eine dreckige Brühe, der Donaukanal.
»Wir suchen eine Wohnung, dort wohnst offiziell du mit dem Kind, und bei dir ist eben manchmal ein unbekannter Mann«, sage ich. Ein Schnellbahnzug donnert über die Brücke.
»Ja«, sagt sie und schaut in die Tasche.
Von einer Agentur holen wir uns Adressen. Dann haben wir eine Wohnung. Klein, in einer versteckten Gasse im sechzehnten Bezirk. Sie schleppt mit dem Taxi haufenweise Kram von zu Hause an. Um die Ecke ist eine Leihbücherei. Ich lese acht Bücher in der Woche und lerne. Baby baden und wickeln.
»Bleibst du jetzt bei uns«, sagt sie.
»Ja«, sage ich und kaufe eine Kiste Wodka.
Ich rufe im Krankenhaus an.
»Ihre Mutter wird morgen operiert, am späten Nachmittag, gegen fünf, können Sie kommen.«
Es ist der 23. Dezember. Der Tag dunkelt rasch. Die großen Fenster des Krankenhauses werfen breite, gelbe Lichtrinnen auf die nackten, hohen Sträucher im Park.
»Sie ist munter«, sagt eine blasse Ordensschwester auf meine Frage. Ich geh’ in das bezeichnete Zimmer. Ein Weihnachtsbaum steht auf einem langen Tisch in der Mitte des Raumes.
Mutter ist gedunsen und fahl. Sie hält meine Hände und weint still. »Daß du doch gekommen bist«, sagt sie. Ich schiebe die Tasche mit den Geschenken zum Nachttisch.
»Das siehst du dir morgen an, heute mußt du schlafen«, sage ich.
»Du darfst noch nicht fortgehen«, sagt sie schnell und klammert die Hände um meinen Arm.
»Ich bleibe hier sitzen, bis sie mich hinauswerfen«, sage ich. Sie schläft. Nach einer Stunde muß ich gehen. Ihr Gesicht ist entspannt, sie atmet ruhig. Leise schließe ich die Tür.
»Weißt du noch … voriges Jahr«, sagt meine Frau und kitzelt die Kleine an den Fußsohlen. Die lacht und kackt in die eben gewechselte Windel, man sieht es am konzentrierten Gesicht.
»Nein«, sage ich, »ich habe es vergessen.«
Durch dichtes
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