Der Mittelstürmer: Die Geschichte eines schwulen Profi Fussballers
mitzunehmen.
Verzweifelt versuchte er, in Tias Zimmer irgendwelche Papiere zu finden. Er stellte den einzigen Schrank in dem Raum auf den Kopf, stöberte in jeder Ecke, suchte unter der Matratze. Nichts. Gar nichts. Erschöpft ließ er sich auf das Bett fallen. Was sollte er bloß tun? Zum ersten Mal wurde ihm so richtig bewusst, dass, wenn Tia sterben sollte, er wohl die Verantwortung für dieses Kind übernehmen musste. Aber er hatte sich darüber noch keine Gedanken gemacht. Das Allerschlimmste war, dass ihm die Zeit fehlte, in sich zu gehen, um sich der Konsequenzen bewusst zu werden. Er spürte, dass er jetzt Entscheidungen treffen musste. Doch abgesehen davon, wenn er sich dazu entschließen sollte, würde er das überhaupt rechtlich durchbekommen? Würden sie ihm Li einfach zusprechen? Das ging alles so schnell. Sein Blick hielt bei der schlafenden Li. Sie wirkte so friedlich. Sie gab ihm das Gefühl, ihm voll zu vertrauen. Doch er war so schwach. So mit sich selbst beschäftigt. Er genierte sich vor der Kleinen. So egoistisch und im Selbstmitleid versunken kann man doch keine Verantwortung für ein Kind übernehmen. Ganz verwirrt und voller Gedanken verließ er die Wohnung mit Li. In seinem Rucksack lag der Buddha, der ihm in den letzten Monaten so oft beigestanden hatte.
»Ich habe nichts gefunden, aber das ist auch egal«, versuchte er, so bestimmt wie möglich zu klingen. »Li ist meine Tochter. Tia und ich leben seit der Geburt unserer Tochter zusammen. Leider sind uns allen unsere Papiere gestohlen worden, und da Tia keine Verwandten hat, werde ich mich um unser Kind kümmern.« Er wunderte sich selbst über so viel Gerissenheit und die Klarheit, die er an den Tag legte.
Es entstand eine lange Pause. Die Verwaltungsassistentin guckte ihn aus ihrem kleinen Mondgesicht skeptisch an. Da brachte sich Aisun endlich ins Spiel: »Ja, das Mädchen hat mir erklärt, dass Herr Kliff der Vater der kleinen Li ist. Das kann ich bezeugen. Es wird sich schon alles regeln lassen. Ich bitte Sie, ihn jetzt mit diesen Fragen in Ruhe zu lassen, er hat momentan wirklich andere Probleme.«
Das Mondgesicht machte auf ihren hohen Absätzen kehrt und verließ das Zimmer.
Marc umarmte Aisun und flüsterte ihm ins Ohr: »Danke, mein Freund.« Dann löste er sich wieder und fragte ängstlich: »Was ist mit Tia?«
»Unverändert, Marc, so etwas kann man nie abschätzen. Es passiert, wenn es passieren muss.« Aisun legte seine Hand auf Marcs Schulter, so, als würde er ihm Kraft senden wollen.
»Danke, Aisun, danke für alles!«
Nun waren sie wieder alleine. Wie seit so vielen Wochen. Tia, Li und er. Tia hing an so vielen Kabeln und Schläuchen, dass sie ihm unwirklich erschien. Marc setzte sich mit Li auf das Sofa und versuchte, zu klaren Gedanken zu kommen. Er würde diesen kleinen Menschen nie im Stich lassen. Das war für ihn klar.
Nachdem Li ihre Flasche bekommen hatte, schlief sie zufrieden in ihrem Bettchen ein. Aisun hatte es sich inzwischen auf der Hotelterrasse bequem gemacht. Marc lehnte sich an die Brüstung.
»Hast du dir das wirklich gut überlegt«, fragte Aisun wie aus heiterem Himmel.
»Was meinst du?«, erwiderte Marc verwundert.
»Das mit Li. Willst du wirklich Li zu dir nehmen? Hast du dir das gut überlegt?«, wiederholte er.
Marc ließ sich für seine Antwort Zeit. Er streichelte gedankenverloren über das Geländer.
»Ich hatte keine Zeit, mir das zu überlegen. Aber ich werde es tun. Ich werde es nicht nur tun. Ich werde auch dafür kämpfen, das verspreche ich dir.«
Jetzt versank Aisun in Gedanken. Nach einiger Zeit blickte er entschlossen zu Marc und flüsterte: »Ich werde dir helfen. Ich werde bezeugen, dass Tia dich als Vater genannt hat. Weil ich es dir zutraue und weil du ein, wie sagt man in eurer Religion, ach ja, ein Engel bist.«
»Sie atmet nicht mehr von selbst … was soll das heißen?« Marc war ruhiger, als er es von sich in dieser Situation erwartet hatte.
»Sie braucht Maschinen zum Atmen.«
Marc wollte etwas erwidern, aber dann merkte er, wie sinnlos das war. Er saß ganz ruhig da und wartete. Auf den Hungerschrei des kleinen Babys, auf Fragen der Verwaltung und auf den Tod von Tia.
Eine Schwester bat ihn, ihr zu folgen. Ein Telefonat, hatte sie gesagt. Er ging mit Li auf dem Arm in das kleine Verwaltungsbüro, setzte sich an den Schreibtisch und nahm den Hörer.
»Hallo?«, fragte er.
»Marc, hier ist Rachen.«
»Rachen?!«, sagte Marc, so als hätten sie gestern zum
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