Der Mitternachtsdieb: Roman
einem halben Jahr ein Mädchen ermordet worden, und seitdem konnten sie die Wohnung einfach nicht mehr vermieten." Kenji und Mitsue starrten einander an.
„Und wie", fragte Mitsue, „ist das Mädchen ermordet worden?"
„Ein Einbrecher war es", sagte Davis. „Die Polizei glaubt, sie
hat ihn beim Heimkommen überrascht und auf frischer Tat
ertappt, und da erstach er sie, um sie zum Schweigen zu
bringen."
„Hat man ihn gefangen?" fragte Kenji.
„Eben nicht. Er ist entkommen."
Also deshalb ist sie ein rastloser Geist, dachte Kenji aufgeregt. Man hat ihren Mörder nicht gefunden.
Als sie unten in der Eingangshalle ankamen, sagte Davis: „Na, dann schönen Tag, Kinder." Und ging davon.
Kenji und Mitsue waren über die Neuigkeit, die sie da soeben erfahren hatten, ganz aus dem Häuschen. „Ermordet!" sagte Kenji.
„Deshalb das Blut an ihrem Kleid", sagte Mitsue.
Da kam gerade der Hausverwalter Mr. Feeney aus seiner Wohnung. „Guten Morgen, ihr beiden", sagte er.
Kenji sagte: „Guten Morgen, Mr. Feeney. Wer ist der Mann,
der da im Aufzug mit uns herunterkam?"
„Ach, ihr meint Jerry Davis?"
„Ja."
„Er ist Privatdetektiv."
„Er hat uns erzählt", sagte Mitsue, „daß in unserer Wohnung ein Mädchen ermordet wurde."
„Ach Gott", seufzte Feeney. „Ja, Susan Boardman. Das hätte er nicht tun sollen. Es hat doch keinen Zweck, euch Angst einzujagen. Das ist alles vorbei."
Aber die Kinder wußten, daß eben nicht alles vorbei war.
Jedenfalls nicht, solange dieses Mädchen noch in ihrer
Wohnung spukte.
Mitsue sagte: „Vergangene Nacht -"
Doch da trat ihr Kenji heftig auf den Fuß und sah sie scharf an. Mitsue verstand sofort. Sie änderte ihren Satz sogleich. „Vergangene Nacht war es sehr mild, nicht? Ich meine, das Wetter."
„Ja", sagte Mr. Feeney. „Der Herbst ist immer sehr schön bei uns."
Als sie draußen auf der Straße waren, sagte Mitsue: „Wieso willst du nicht, daß wir ihm das von dem Geistermädchen sagen?"
„Wir sollten es überhaupt niemandem sagen, Mitsue. Ich glaube, sie will uns etwas mitteilen. Wir müssen erst herausfinden, was das ist."
Am Montag gingen sie wieder in die Schule, Mitsue in ihre Klasse, Kenji in die seine. Sie fanden es beide schwierig, dem Unterricht zu folgen. Sie mußten dauernd an den Geist denken. Das Geistermädchen war inzwischen schon viel mehr für sie als eben einfach nur ein Geist. Sie war eine junge Frau, die in ihrer jetzigen Wohnung gelebt hatte und dort ermordet worden war. Kenji lief ein kalter Schauer nach dem anderen über den Rücken, wenn er daran dachte.
Kenjis Klassenleiter sagte: „Kenji, du wirst in die nächste Klasse versetzt. Du hast dich sehr gut eingewöhnt, und du gehörst in die höhere Klasse."
Normalerweise hätte sich Kenji sehr darüber gefreut. Jetzt aber hatte er andere Dinge im Kopf. „Danke, Mr. Leff", sagte er nur.
„Dein Klassenzimmer bleibt auch weiterhin hier. Aber du hast jetzt andere Lehrer."
Kenjis erste Stunde in der neuen Klasse war Englisch. Er bekam seinen Platz angewiesen, und sein neuer Englischlehrer sagte: „Heute nehmen wir die Antonyme durch. Weiß jemand, was ein Antonym ist?"
Kenji entschloß sich zum Raten. „Hat es mit Enten zu tun?"
Der Lehrer lächelte. „Nein, Kenji. Antonyme sind Wörter, die das Gegenteil bedeuten. Beispielsweise sind traurig und glücklich Antonyme. Groß und klein. Gut und schlecht. Jedes ist das Gegenteil vom anderen. Hast du das verstanden?" „Ja, Sir."
„Gut, jetzt alle. Schreibt mir, jeder, zwanzig Antonyme auf." Kenji und alle anderen machten sich an die Arbeit. Das erste, was er schrieb, war: Leben und Tod. Es ging ihm einfach nicht aus dem Kopf.
Der Tag verging quälend langsam. In der Pause spielte er Ball im Hof mit den anderen, aber er war nicht richtig bei der Sache. Als er am Schlagen war, verfehlte er einen Ball um den anderen, und mit seinem Werfen war schon gleich gar nichts los an diesem Tag.
„Ist was?" fragte ihn Clarence. „Du bist aber nicht gut heute." „Ich habe schlecht geschlafen", sagte Kenji. Und dachte dazu: Und ob ich heute nacht schlafen kann, bezweifle ich erst recht. Nach der Schule wartete er auf seine Schwester, und sie gingen zusammen nach Hause.
„Ich möchte wissen", sagte Kenji, „wer es war."
„Du hast doch gehört, was Mr. Davis sagte: ein Einbrecher." „Wie sollte denn ein Einbrecher ins Haus kommen, bis nach oben gelangen und dort in eine Wohnung eindringen, ohne daß er bemerkt würde?" „Was meinst du
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