Der Moderne Knigge
durchrennen, so achte man genau auf die Erklärungen des die Opfer der Schaulust führenden Beamten und merke sich die oft so feinen Dummheiten seiner Bemerkungen. Dies hat man aber nicht nötig, wenn man historische Reliquien und ganz alte Vorfahrenporträts für interessanter als solche Bemerkungen hält, worüber man vom Arzt das Nähere erfahren kann. Unheilbar ist es nicht.
Stehen in den Schlössern und Museen viele Kleinigkeiten umher, die sich leicht einstecken und transportieren lassen, und steckt man solche ein, so ist man ein Dieb, wenn man erwischt wird. Kommt es aber heraus, so ist man statt dessen ein an der Kleptomanie leidender Mann, der allgemein bedauert wird und auf seine Zurechnungsfähigkeit untersucht werden muß. Man bezwinge sich indessen lieber, denn man wird doch sehr leicht erwischt, und es ist auch nicht sicher, daß angenommen wird, man leide an der Kleptomanie. Man beschränke sich also darauf, einige Bemerkungen des erklärenden Führers mitzunehmen, welche, wie gesagt, hübscher sind, als die Gegenstände, auf die sie sich beziehen.
Man zeige auf solchen Durchquerungen der Schlösser und Museen nicht, daß man reichlich mit Geld versehen sei. Denn man wird in solchen Fällen nur zu oft von einem alten Bekannten begrüßt, den man niemals im Leben gesehen hat.
Folgt man solchem alten Bekannten, den man niemals im Leben gesehen hat, so nehme man die Fahrkarte aus dem Portemonnaie und stecke sie in die Westentasche, um sicher zu sein, die Rückreise antreten zu können, ohne eine Fahrkarte kaufen zu müssen. Denn wenn das Portemonnaie mit der Fahrkarte abhanden kommt, so wird diese vom unehrlichen Finder mit zum baren Gelde berechnet und billig verkauft.
Da eine Fahrt mit dem Extrazug mehr als jede andere anstrengt, so verpflege man sich gut und lege sich namentlich im Essen und Trinken keine Entbehrungen aus. Einen Aschinger findet man heute schon in allen namhaften Städten.
Will man einen wirklichen Kunstgenuß haben, so gehe man nicht ins Theater, da daselbst in der Zeit der Extrazüge, wenn überhaupt gespielt wird, nur das älteste Repertoire zur Herrschaft gelangt. Man erkundige sich daher, ob in der Stadt ein Spezialitätentheater existiere und vermeide auch dies.
Hat man sich der leichteren Beweglichkeit halber in der Eigenschaft als Extrazügler mit möglichst wenig Gepäck versehen, so schone man trotzdem die Papierwäsche nicht, welche schon am zweiten Tag nicht mehr recht sauber zu sein pflegt. Man werfe sie aber nicht fort, sondern verwende sie zum Aufzeichnen der Reiseeindrücke und Erlebnisse, welche Notizen sich später zu Feuilletons verarbeiten lassen.
Hat man auf diesem litterarischen Felde einen Namen und wird um Autographen ersucht, so bediene man sich dazu sauberer Papierwäsche. Dies ist höchst originell.
Ist der Extrazug sehr lang und wird dadurch ein Eisenbahnzusammenstoß herbeigeführt, so sei man ganz ruhig. Denn die Direktionen haften mit ihrem ganzen Vermögen für die Folgen. Hat man sich aber gegen Eisenbahnunfall mit einer größeren Summe versichert und rechnet man auf diese, so sei man noch ruhiger, denn alsdann geschieht kein Unglück.
Wenden wir uns von solchen Herdenmenschen zu denjenigen Sonderlingen, welche die
Einsamkeit
aufsuchen, indem sie sie als ein unabweisbares Bedürfnis empfinden. Sie streben sie an und finden sie wohl auch, aber dann ist es nicht die Einsamkeit.
Goethe läßt seinen Harfenspieler singen: »Wer sich der Einsamkeit ergiebt, ach! der ist bald allein.« Dies ist indes in Zweifel zu ziehen. Keinenfalls ist der lange allein. Selbst wenn ein Harfenspieler sich der Einsamkeit ergiebt, so thut er dies in der Überzeugung, bald nicht mehr allein zu sein, so wenig man verlangen mag, zu den Zuhörern zu gehören. Aber auch, wenn man nicht Harfenspieler ist, darf man überzeugt sein, daß es eine schwere Aufgabe ist, eine Einsamkeit finden und genießen zu können.
Hat man das seltene Glück, einen echten Einsiedler aufzutreiben, so wird man dahinterkommen, daß man einen sehr geselligen Herrn kennen gelernt hat, der auch, wenn man ihm etwas giebt, sehr mitteilsam wird. Er empfängt Besuch aus der Umgegend und ist außer sich, wenn solcher ausbleibt, denn er haßt die Menschen nur, wenn sie nicht da sind, weil er von ihnen und nicht von Heuschrecken lebt. Das Heuschreckenessen ist eine Fabel, der Einsiedler pflegt ein Feinschmecker zu sein.
Wer es mit der Einsamkeit ernst meint, wird sie natürlich finden, um dann bald
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