Der Modigliani Skandal
hatte.
Sofort mit ihr Kontakt aufzunehmen, erschien ihm überstürzt. Er trank seinen Kaffee aus und zündete sich eine kleine Zigarre an. Im Leben war eine gerade Linie nicht immer die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten. Zunächst einmal würde er einen anderen Weg einschlagen.
Er gestattete sich einen unhörbaren Seufzer. Jetzt kam der strapaziöse Teil seiner Arbeit. Er würde die Straße auf der Ansichtskarte praktisch Tür für Tür abklappern müssen in der Hoffnung, ein Indiz zu finden, das ihm verriet, aus welchem Grund Dee Sleign an eine Fährte zum verlorenen Modigliani glaubte. Sogar die Nebenstraßen würde er in seine Suche mit-einbeziehen müssen. Wenn ihn seine Menschenkenntnis nicht trog, so gehörte das Mädchen zu jenem Typ, der eine so aufregende Entdeckung keine fünf Minuten für sich behalten konnte.
Aber selbst wenn er in diesem Punkt recht haben sollte, so war der Rest doch ein Herumtappen im dunkeln. Eine Zeitungsmeldung, eine zufällige Bemerkung in einem Gespräch -tausenderlei Dinge konnten für Dee Sleign so etwas wie ein Auslöser gewesen sein. Im Grunde hatte Lipsey nur einen einzigen Anhaltspunkt, der ihn zu der Hoffnung berechtigte, in der bewußten Straße fündig zu werden: Dee Sleign wohnte in einem ganz anderen Teil der Stadt, weshalb also hatte sie eine Ansichtskarte dieser unattraktiven Gegend gekauft, um in ihrer typischen Aufgeregtheit ihre Mitteilung darauf zu kritzeln?
Zweifellos gab es da irgendeinen Zusammenhang. Trotzdem mußte Lipsey damit rechnen, daß er sich die Füße wundlaufen würde, ohne am Ende ein greifbares Ergebnis zu haben.
Aber gekniffen wurde nicht. Er war ein gründlicher Mensch.
Als Lipsey den altmodischen Fischladen betrat, hatte er das Gefühl, von dem durchdringenden Geruch überwältigt zu werden.
Der Fischhändler lächelte ihn an. »M'sieu?«
Lipsey zeigte dem Mann das Foto von Dee Sleign und fragte ihn in seinem überpräzisen Französisch: »Haben Sie dieses Mädchen gesehen?«
Der Mann verengte seine Augen, und sein Lächeln gefror zu einer rituellen Grimasse. Seine Miene verriet, daß er Polizei witterte. Er wischte sich seine Hände an seiner Schürze ab, nahm das Bild und kehrte Lipsey den Rücken zu, während er das Bild hochhielt, damit das Licht darauf fiel.
Dann drehte er sich zu Lipsey herum, gab das Foto zurück und zuckte die Achseln. »Tut mir leid, die kenne ich nicht«, sagte er.
Lipsey dankte ihm und verließ den Laden. Sein nächstes Ziel war ein benachbarter, dunkler Hauseingang. Während er die Treppe hinaufstieg, spürte er, daß seine Kreuzschmerzen ärger wurden: Er war seit mehreren Stunden auf den Beinen. Bald würde er irgendwo zu Mittag essen, allerdings auf gar keinen Fall Wein zur Mahlzeit trinken, sonst würden die Nachmittagsstrapazen unerträglich werden.
Der Mann, der auf sein Klopfen die Tür oben öffnete, war sehr alt und kahlköpfig. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln: so, als freue er sich über jeden Besucher, wer immer dieser auch sein mochte.
Hinter dem Mann sah Lipsey an einer Wand eine Anzahl von Gemälden. Und sein Herz machte gleichsam einen Sprung: Allem Anschein nach handelte es sich bei den Bildern um wertvolle Originale. Möglich also, daß er hier an der richtigen Adresse war.
Er sagte: »Bitte entschuldigen Sie die Belästigung, M'sieu. Haben Sie schon mal dieses Mädchen gesehen?« Er zeigte das Foto.
Der alte Mann nahm das Bild und trat ein paar Schritte zurück, um das Bild bei günstigem Licht zu betrachten, genau wie der Fischhändler. Über die Schulter sagte er: »Treten Sie nur herein, wenn Sie wollen.«
Lipsey tat es, schloß hinter sich die Tür. Es war ein sehr kleiner Raum, unaufgeräumt und muffig.
»Setzen Sie sich doch bitte«, sagte der Alte. Lipsey folgte der Aufforderung, und der Franzose nahm ihm gegenüber Platz. Er legte das Foto auf den Holztisch, der zwischen beiden stand. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte er. »Weshalb wollen Sie's denn wissen?«
Das runzlige, gelbe Gesicht blieb ausdruckslos; trotzdem glaubte Lipsey, sicher sein zu können, daß es dieser Mann gewesen war, der Dee Sleign auf die Fährte des Bildes gesetzt hatte. »Spielt der Grund eine Rolle?« fragte er.
Der alte Mann lachte amüsiert. »Für einen betrogenen Liebhaber sind Sie vermutlich zu alt«, sagte er. »Und Sie unterscheiden sich so sehr von ihr, daß Sie auch kaum ihr Vater sein dürften. Ich glaube, daß Sie ein Polizist sind.«
Der Alte besaß einen erstaunlich
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