Der Mönch und die Jüdin
ihm einen Freund gewonnen.«
»Aber was ist mit der Liebe?«, fragte Hannah ihren Vater. »Ich fühle keinerlei Liebe und Leidenschaft für Salomon. Ihr habt doch selbst gesagt, dass ich auf mein Herz hören soll.«
»Ich habe dir versprochen, dass du selbst entscheiden darfst, und mein Versprechen gilt. Aber überlege dir die Sache gut. Es gibt sehr vernünftige Argumente, die für eine Heirat mit Salomon sprechen. Und ich möchte nur, dass du sie dir durch den Kopf gehen lässt.«
»Vernunft, Vater? Was hat Vernunft mit Liebe zu tun?«
Joseph wiegte bedächtig den Kopf. »Man kann kein Leben ohne jede Vernunft führen. Ich weiß, dass ich mir selbst zu widersprechen scheine. Aber das Leben steckt nun einmal voller Widersprüche.«
»Welche vernünftigen Argumente sprechen denn dafür, dass ich einen Mann heirate, obwohl ich ihn nicht liebe?« Im Grunde kannte sie diese Argumente ja bereits, aber sie wollte sie noch einmal aus dem Mund ihres Vaters hören.
Und Joseph zählte auf: Salomons Anständigkeit und Reichtum; die Möglichkeit, mit ihm auf Reisen zu gehen. »Du würdest so sicher und bequem reisen, wie es heutzutage überhaupt nur möglich ist – beschützt von kampferprobten, schwerbewaffneten Dienern. Mit Salomon würdest du in teuren Herbergen und edlen Karawansereien übernachten, wo die Betten sauber und die Speisen vorzüglich sind. Die Straßen sind gefährlich, Hannah. Eine junge Frau kann nicht ohne Schutz reisen. Ein schöner, dich mit seinem Liebreiz erfreuender, aber unbedarfter und armer Jüngling könnte dir diesen Schutz niemals bieten. Wie leicht könntest du von Sklavenhändlern verschleppt werden oder in andere grässliche Gefahren geraten!« Als er das sagte, wurde ihr klar, dass sie sich mit den praktischen Aspekten des Reisens noch nie ernsthaft beschäftigt hatte. Sie träumte von all den wunderbaren Orten, die sie aus der Literatur und aus den Schilderungen ihres Vaters und seiner weitgereisten Freunde kannte, wollte gerne die Bibliothek des Kalifen Hakam in Cordoba sehen oder ihren alten Hauslehrer Synesios in Athen besuchen – aber über die Bedingungen und Gefahren des Weges hatte sie sich nie Gedanken gemacht. Vielleicht wurde es Zeit, erwachsen zu werden.
Und Erwachsenwerden, so, wie Joseph es ihr vermittelt hatte, hieß doch: selbst die Verantwortung für ihr Leben und ihre Träume zu übernehmen. Sie schob trotzig das Kinn vor und sagte: »Aber wäre eine Ehe ohne Liebe nicht ein hoher Preis dafür, reisen zu können? Und wer sagt, dass ich nicht einen Mann finde, den ich liebe und mit dem ich auf große Fahrt gehen kann.«
Joseph schüttelte lächelnd den Kopf. »Das hat man davon, wenn man seine Tochter zu selbständigem Denken erzieht! Aber was ist, wenn du diese Liebe, nach der du suchst, niemals findest, oder wenn es dir bestimmt ist, sie erst später zu finden, in ein paar Jahren? Vielleicht trägt das Leben jetzt Salomon zu deiner Tür, weil er dir ganz neue Möglichkeiten bieten kann, von denen du bisher nicht einmal zu träumen wagtest. Wer weiß, was in zwei, drei Jahren geschieht? Vielleicht trifft ihn der Schlag, und als seine Witwe und – wer weiß? – Mutter eines Erben wärst du reich und frei, würdest dich eines gewaltigen Reichtums erfreuen, wie ich ihn dir niemals hinterlassen könnte.«
»Wissen wir denn überhaupt, ob wir seinen Versprechungen trauen können? Spricht nicht schon gegen ihn, dass … dass Onkel Nathan ihn ausgesucht hat?« Dann wurde ihr klar, dass es darauf gar nicht ankam. Salomon mochte der ehrlichste und anständigste Mann auf der Welt sein. Aber was zählte das, wenn er ihr Herz nicht zum Glühen brachte?
»Glaube mir, ich habe ihm gestern gründlich auf den Zahn gefühlt«, sagte Joseph. »Meine Bibliothek ist ein Ort der Prüfung für jeden, der mein Vertrauen gewinnen möchte. Sie ist kein Ort für Heuchler, Schwätzer oder Halunken. Salomon hat die Prüfung einwandfrei bestanden.«
Daran zweifelte Hannah nicht. Ihr Vater war ein Meister darin, Menschen in scheinbar harmlose Gespräche über antike Literatur und Philosophie zu verwickeln, um dabei alles über ihren wahren Charakter herauszufinden. Sie hatte oft miterlebt, wie er mögliche Geschäftspartner auf diese Weise prüfte, ehe er sich auf eine Zusammenarbeit mit ihnen einließ.
»Da ist noch etwas«, sagte Joseph, und auf einmal sah er sehr traurig aus. »Ich fühle, dass ich nicht mehr lange unter euch weilen werde. Meine Kräfte schwinden und meine Tage sind
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