Der Mörder mit der schönen Handschrift
als ob jemand hinter ihm her wäre. Selbst die Hausierer gönnten sich keine Verschnaufpause. Ihre paar Sous wickelten sie ins Taschentuch, damit sie niemand in der Tasche klimpern hören sollte. Da können Sie sich leicht vorstellen, dass man sich hütete, in die Gehölze an den Böschungen der Wege einzudringen. Einige davon waren reich an Wild und den Jägern bestens bekannt, dennoch wollte niemand die Hunde freilassen, aus Angst, sie könnten dort vielleicht etwas ganz anderes aufspüren.
So ist es kein Wunder, dass dort genügend Leichen herumliegen, die sich vielleicht schon seit fünfzig Jahren langsam im Schotter zersetzen. Die Knochen schuppt der Wind mit der Zeit ab, der Frost zerstört sie, und der Regen durchdringt sie wie mürbes Gestein. Vor allem die Schädel versteinern schließlich, werden stumpf wie die Kieselsteine ringsumher und heben sich bald nicht mehr von ihnen ab. Ab und zu finden die Kinder einen solchen Schädel – wohlgemerkt, ich rede von der Zeit vor fünfzehn oder zwanzig Jahren, als ich noch praktizierte – und glauben dann, ein prähistorisches Relikt entdeckt zu haben. Dabei handelt es sich möglicherweise schlicht um ihren Ururgroßvater, der eines Tages mit einem Nachbarn in Streit geraten war, weit hinten am Zipfel eines Steineichenhains. Das kann ziemlich schnell gehen, bei manchen Familien.«
»Sie versuchen auf Ihre Art, mir zu sagen«, seufzte Laviolette, während der Alte verschnaufte, »dass dieser Melliflore eines schönen Tages verschwunden ist, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Aber bevor es dazu kam, hat Ihr Vater ihn doch wieder getroffen?«
»Ja«, räumte Pardigon ein, »er hat ihn wieder getroffen. Das wollte ich mir eigentlich für später aufheben, aber wo wir nun schon dabei sind … Also, nachdem mein Vater nach Digne zurückgekehrt war, haben sich seine Menschlichkeit und seine Selbstlosigkeit doch langsam bezahlt gemacht. Er richtete sich ein bisschen besser ein. Und um das Maultier einzusparen, hat er sogar eine eigene Praxis eröffnet. Eine Praxis! In Blégiers oder Prads, ich weiß es nicht mehr genau. Doch! Es war in Prads, weil er in Blégiers nur eine so feuchte Bude gefunden hatte, dass sich seine Patienten dort den Tod geholt hätten. Und genau da oben sah er eines Tages eine magere, gebeugte Gestalt auf sich zukommen, die aussah, als hätte sie seit Wochen eine Ladung Steine auf den Schultern getragen. So hat es mir mein Vater beschrieben. Und noch ehe mein Vater ihn fragen konnte, was ihm fehle, hat er fünf Francs auf die Ecke des Tischs gelegt. ›Nun mal langsam!‹, ruft mein Vater aus. ›Ich habe Sie doch noch gar nicht behandelt, und außerdem wird es sicher nicht so viel kosten!‹ ›Ich schulde Ihnen das Geld‹, sagt der Mann. ›Erkennen Sie mich nicht wieder?‹ ›Nein‹, sagt mein Vater.
Aber genau in diesem Moment erkennt er ihn doch. Es war der Mann aus Abriès. Die See habe ihm über fünf Jahre lang voller Gehässigkeit ins Gesicht geblasen und ihn dabei entstellt. Damals in Abriès war er blond, nun war er dunkel. In Wirklichkeit, so sagte mein Vater, war nicht die See daran schuld, wie der Mann glaubte. Er hatte sich schlicht und einfach eine dieser tropischen Hautkrankheiten zugezogen, die die Haut zu Pergament werden lassen und die Gesichtsmuskeln lähmen, sodass man schließlich aussieht wie eine Mumie. Er konnte weder lachen noch weinen. Der vollkommene Ausdruck der Trostlosigkeit.
›Es tut mir Leid‹, sagt da der Mann zu meinem Vater. ›Ich wollte Ihnen auch die Zinsen zurückzahlen, aber das kann ich leider nicht. Ich habe inzwischen so gut wie nichts dazuverdient. Wissen Sie, drei Jahre lang habe ich auf ein Schiff für die Rückreise gewartet … Da unten an diesem Kap Adamastor, von dem ich Ihnen erzählt habe. Es heißt eigentlich anders, aber die Portugiesen, mit denen ich dort zusammen war, nannten es immer nur so. Drei Jahre … Hafenarbeiter oder sonst irgendetwas. Davon wird man nicht fett.‹ ›Warten Sie mal!‹, sagt da mein Vater. ›Wissen Sie eigentlich, dass Sie ein Kind haben?‹ ›Ja, das weiß ich.‹ ›Ja, und?‹ ›Tja, es ist da oben, in Mariaud.‹ ›Ja und? Wollen Sie es denn nicht dort abholen?‹ – ›Abholen? Und wohin damit? Und was soll ich mit ihm anfangen? Dort oben hat es zurzeit Unterkunft und Verpflegung. Bei mir bliebe ihm nur die ewige Wanderschaft, mit ständig kalten Füßen und Nachtlagern unter schadhaften Dächern. Glauben Sie, ich wäre so egoistisch?‹
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