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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Absichten so bloßstellen, dass er sich in den hintersten Winkel verkriecht.‹
    Aber bei diesen Worten wich der Melliflore aus Barles drei Schritte zurück. ›Bis zur Wand‹, hat mein Vater gesagt. ›Nein! Nein!‹, rief er aus, als sehe er aus dem Vorschlag, den man ihm unterbreitete, eine Klapperschlange hervorkriechen. Seine Angst war dreimal so groß wie zuvor, doch diesmal aus einem ganz anderen Grund. ›Nein! Nein!‹, bat er inständig. ›Sie hat nichts und ich erst recht nicht. Nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Von was sollten wir denn leben? Und außerdem will ich kein Kind! Danke! Ich weiß aus eigener leidvoller Erfahrung, was es bedeutet, einer zu viel zu sein!‹ ›Aber wir würden Ihnen doch helfen!‹ ›Nein! Hier wird niemandem geholfen! Dazu sind die Leute zu arm. Und außerdem würden diejenigen, die mir helfen wollten, schnell zur Räson gebracht. Falls Sie es vergessen haben sollten, ihr Onkel ist gleichzeitig auch der Bürgermeister! Und Sie schätzen die Macht eines Bürgermeisters von hier nicht richtig ein: Sie haben ihm das Recht über Leben und Tod eines jeden von ihnen gegeben, und er hat es ohne zu zögern angenommen.‹ ›Na, na!‹, scherzte mein Vater. Er glaubte an die Existenz der Republik. Und er ließ sich alle möglichen Gründe einfallen, um den Melliflore zum Bleiben zu überreden. Aber der lief die ganze Nacht im Zimmer umher wie ein Wildschwein auf einer eingezäunten Weide. Er rang vor Verzweiflung die Hände: ›Was kann ich nur tun? Dort unten gehört mir nichts mehr. Und hier kann ich nicht einmal mit einem Mädchen schlafen, ohne befürchten zu müssen, deswegen umgebracht zu werden. Also? Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?‹ Und er schaute aus dem Fenster nach draußen, wo es zu schneien begonnen hatte.
    ›Ich kann nicht einmal weg von hier, ich habe keine Schneeschuhe! Ich habe nur das, was ich anhabe!‹ ›Wohin wollen Sie überhaupt?‹, fragte der Pfarrer. ›Bis nach Marseille runter. Der Hausierer hat mir letzte Woche erzählt, dass da ein Seelenverkäufer im Hafen liegt. Er läuft aus zum Vogelfang an die Küsten von Adamastor. So wie es aussieht, kann dort jeder Beliebige anheuern. Dafür muss man aber auch jede erdenkliche Arbeit verrichten. Aber was soll’s? Was immer geschehen mag, hier wird mich der Onkel irgendwann drankriegen, also muss ich …‹
    Schließlich haben sie seine Argumente akzeptiert. Er ist noch vor Ta gesanbruch aufgebrochen, mit dem Totenlicht, das ihm der Pfarrer gegeben hat, mit dem durchlöcherten, von Motten zerfressenen Umhang des Hirten von der mit Figuren in Lebensgröße ausgestatteten Krippe und mit den Schneeschuhen meines Vaters. Und außerdem mit fünf Francs, die der Pfarrer und mein Vater zusammenlegten, indem sie beide ihre Taschen durchwühlten. Damit konnte er die Postkutsche von Briançon nach Marseille bezahlen. ›Ich hätte sie genauso gut zum Fenster hinauswerfen können, die fünf Francs‹, sagte mein Vater voller Bitterkeit. ›Und den Jungen hätte ich besser an den Bettpfosten binden sollen, trotz der Macht des Bürgermeisters.‹
    Und dennoch, die Macht des Bürgermeisters, die konnten beide, der Pfarrer und mein Vater, in ihrem ganzen Ausmaß ermessen. Es war einige Monate später, an einem schönen Tag, Ende Mai, als zum ersten Mal im Jahr eine richtige Wärme in der Luft lag, als man den Guil tosen hörte, der die Steine der Lawinen mit sich führte, die in seinen Lauf gestürzt waren, hoch oben, sehr viel weiter oben, unter den Felsterrassen des Mont Viso.
    Das Pfarrhaus lag am Ende des Dorfes, flussabwärts, zu der Straße hin, die in den Rest der Welt hinausführte.
    ›Plötzlich hören wir eilige Schritte, eine Menschenmenge, die die Straße herunterkommt. Fröhlich? Nein … nicht direkt fröhlich‹, sagte mein Vater, der das richtige Wort suchte. ›Eine Gruppe von etwa hundert Leuten, riesig für Abriès. Und unter dem Fenster ertönte ein gedämpftes, munteres Stimmengewirr.‹ Eine Gruppe, die, wie mein Vater sagte, heiter frohlockte. So muss es gewesen sein; alle fühlten sich im Recht und hatten ein reines Gewissen.
    Sie lehnen sich zum Fenster hinaus, mein Vater und der Pfarrer, und was sehen sie? Vorneweg der Bürgermeister mit seiner Schärpe und hinter ihm, mit gesenktem Haupt, das Corpus Delicti: Marguerite, die Nichte, die man bis dato unter Verschluss gehalten hatte und die nun eine Kugel von etwa sechs Monaten vor sich her trug. Urheber dieses Desasters war zweifellos der

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