Der Mörder mit der schönen Handschrift
nie rot wird!«, sagte sie feierlich zu sich selbst.
Sie stand auf, wandte dem Bild den Rücken zu, schenkte sich einen neuen Becher ein, begann zu trinken, dieses Mal langsam und bewusst, legte sich wieder hin und wandte sich dem Porträt zu.
»Mein Gott, mein Schatz! Wie langweilig Sie doch sind! Wie konnte ich nur so viel Zeit damit verbringen, Sie zu bewundern. Oh ja, ich weiß schon! Inzwischen habe ich einiges wieder wettgemacht, mehr als genug. Aber Sie haben gut reden! Wissen Sie vielleicht, was es heißt, einem Mann treu zu bleiben, der einen nie angerührt hat? Und das sieben Jahre lang! Und hätten Sie es für richtig gehalten, dass ich danach für alle Zeit auf dem Trockenen sitzen würde, nur wegen Ihrer Blödheit? Das hätten Sie dann wohl doch nicht gewollt!«
Sie zuckte zusammen. Die Pendeluhr im Flur schlug sechsmal, hastig wie eine gehörige Tracht Prügel, als wolle sie sie auffordern, endlich den Mund zu halten. Violaine fand sich in tiefem Dunkel wieder. Mit einem einzigen Satz war sie am Lichtschalter. Sie rannte los, um überall Licht zu machen, im Flur, auf der Treppe, in den oberen Stockwerken, auf der Terrasse. Sie kam außer Atem zurück, erstaunt über sich selbst. Warum plötzlich so viel Eile, wo sie doch sonst die Dunkelheit und Stille längere Zeit auf sich einwirken ließ, bevor sie sie schließlich mit Hilfe einer eindrucksvollen Festbeleuchtung vertrieb.
Das unerbittliche Bild sah nicht nachsichtiger aus, als sie zu ihm zurückkam.
»Aber natürlich! Ich weiß schon, was Sie mir vorwerfen! Ja, es ist wahr! Ich habe heute mit jemandem geschlafen, aber doch nur so ein bisschen!«
Sie brach in Gelächter aus.
»Im Auto! Heimlich und auf die Schnelle! Haben Sie es schon mal im Auto getrieben? Ach ja, richtig! Sie haben nie und nirgendwo mit jemandem geschlafen! Was sagen Sie da? Ich hätte geschrien? Natürlich habe ich das, meine Mutter hat es mir dringend empfohlen. Aber ein bisschen hartnäckiger hätten Sie schon sein können! Nein? Sie konnten nicht? Sie wollen mir weismachen, dass Sie nie gekonnt hätten? Aber hören Sie, das Ding da ist schließlich nicht alles! Hatten Sie etwa keine Hände? Keinen Mund? Hören Sie, ich muss Ihnen ein Geständnis machen …«
Sie tauchte die Nase in ihren Becher, als hätte sie eine reale Person vor sich und empfände nun Verlegenheit angesichts der Dinge, die sie ihm anvertraut hatte. Ihr Blick war auf die Flüssigkeit gerichtet, die sie im Becher kreisen ließ, offenbar um sich zu zwingen, die Augen gesenkt zu halten.
Sie murmelte vor sich hin: »Sie dürfen es natürlich niemandem weitersagen, aber sehen Sie, manchmal, wenn ich mit einem Liebhaber zusammen bin, frage ich mich, ob es nicht die Hände und der Mund sind, die mir im Grunde am meisten zusagen.«
Sie leerte mit einem Zug den Rest ihres Glases. Dann stand sie auf und ging an dem Bild vorbei, dessen Glas sie leicht mit einem Finger streifte.
»Sehen Sie«, sagte sie, »Sie hätten es wenigstens versuchen können.«
Sie war auf dem Weg zur Tür, da ihr plötzlich eingefallen war, dass die raue Luft im Freien den im Treibhaus gezogenen Gladiolen, die sie auf der Terrasse zurückgelassen hatte, vielleicht nicht gut bekommen würde. Mitten im Schwung blieb sie plötzlich stehen, weil ihr etwas anderes in den Sinn gekommen war. Langsam wandte sie sich dem Bild zu.
»Das ist aber seltsam!«, sagte sie. »Ich glaube nicht, Ihnen je so viel mitgeteilt zu haben. Was ist denn heute Abend in mich gefahren, dass ich Ihnen alles sage?«
Sie schenkte sich noch einen halben Becher Wodka ein, setzte sich jedoch nicht wieder hin, um ihn zu trinken. Sie sprach nicht mehr. Sie keuchte ein wenig. Im Licht der beiden Leuchter war der goldfarbene Staub zu sehen, der aus den Balken und der Kassettendecke hervorquoll. Das Geräusch, das die Holzwürmer machten, erinnerte an eine quietschende Wetterfahne.
Ungeduldig fuhr Violaine mit der Hand unter ihre Bluse, als hätte sie diese Geste seit langem gewaltsam unterdrückt. Sie zog aus ihrem Büstenhalter das Papier heraus, das ihr, seitdem es am Morgen mit der Post gekommen war, die Brust kitzelte, so rau war es. Sie faltete es grob auseinander. Sie las noch einmal, vielleicht zum zehnten Mal, den mit einer so schönen Schrift geschriebenen Sinnspruch, den Sinnspruch, – so hatte es in der Zeitung gestanden –, den auch ihre Schwester und ihre Cousine erhalten hatten, bevor sie gestorben waren.
Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch
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