Der Mörder mit der schönen Handschrift
sich – bevor sie anschließend die Kunde davon verbreiten würden – zu vergewissern, dass der Strauß so auffällig wie immer gewesen war, daher widmete ihr Violaine gewöhnlich nur wenige Minuten.
Aber heute hielt sie sich länger dabei auf, ohne einleuchtenden Grund, wie sie glaubte. Ihr Blick schweifte vage über die bizarren Formen der Eisenteile, von denen das leise Geräusch des abblätternden Rosts im Dunkel der Zentrale ihr etwas zuzuflüstern schien. Die ganze Glaswand wurde durch ein luftiges Gebilde unterteilt, das bis zu zwei Dritteln der Höhe des Gebäudes hinaufragte. Es war eine Treppe mit Eisenstufen, die vor sechzig Jahren erbaut worden war. Sie war ausschließlich für die Aufseher bestimmt und daher ohne Geländer. Nicht ganz, um genau zu sein: Ungefähr alle fünf Stufen war sie auf beiden Seiten mit senkrechten Eisenrohren versehen, die vermutlich zur Aufnahme einer Kette bestimmt waren. Später hatte man wohl die mit dem Anbringen dieser Kette verbundenen Ausgaben für übertrieben gehalten, angesichts des Zwecks, für den sie vorgesehen war.
Diese Treppe führte zu der Rollbrücke und zu dem Steg für die Aufseher, der um den abgegrenzten Bereich herumführte, in dem die museumsreifen Transformatoren vor sich hin dämmerten.
Violaine blieb lange nachdenklich vor dem stehen, was sie noch von diesen Stufen erkennen konnte, die sich im Halbdunkel verloren. Sie wich mit kleinen Schritten zurück. In ihrem Kopf begann sich nun schon ein leichter Nebel zwischen sie und die Realität zu schieben.
Sie ging zum Chalet zurück, betrat es, knallte die Tür zu, holte sich aus der Anrichte eine neue Flasche Wodka und öffnete sie. Dann machte sie das Radio an und stellte eine laute Jazzmusik ein. Sie genoss es, wenn sie selbst zum Resonanzkörper wurde und sich von dem dumpfen Dröhnen des Schlagzeugs und dem Röhren des Saxophons durchschütteln ließ.
Sie streckte sich auf dem Sofa aus, die Augen zur Decke gerichtet. Sie sprach nicht mehr mit dem Bild. Sie schaute es nicht mehr an. Vergebens musterte der Abgebildete sie mit seinem blasierten und strengen Blick.
In diesem Augenblick setzte in dem abgelegenen Tal die Lombarde ein. Wenn sich dieser Ostwind wie der Schrei einer Färse in den Talgründen von Chavailles vernehmen lässt, ist normalerweise niemand draußen, der ihn hören würde. Es ist der Wind, der einem das Herz zusammenschnürt, der Menschen und Tiere dazu bringt, sich aneinander zu schmiegen. Er bläst den Unglücklichen die Botschaft von der Sinnlosigkeit des Lebens ins Ohr. Er kreist um den Cheval-Blanc und den Couar. Wie ein Teppichklopfer schlägt er auf die weiten, rau en Grasflächen der Gipfel ein, die sich nach Schnee sehnen, um ihre Blöße zu bedecken. Er dreht sich, kommt im Zickzack daher, beginnt zu torkeln. Den Eindruck hinterlässt er zumindest bei denen, die ihm zuhören. Es heißt, er komme aus Italien. Aber diejenigen, die das behaupten, werden immer weniger, denn es sind die Alten, deren Reihen sich lichten.
Es ist ein Wind, dessen Namen ein Dichter erfunden hat. Nur ein Dichter konnte es gewesen sein, der ihn eines Nachts weit draußen erkannt und von allen übrigen Winden unterschieden hat. In Ermangelung einer offiziellen Bestätigung weht er weiter – trotz der Skepsis der Fachleute –, unter welchem Namen auch immer.
Er verbreitet Gerüche. Nahe Gerüche, ferne Gerüche, manchmal auch Gerüche aus einer anderen Zeit, die er tief in seinem luftigen Inneren verwahrt hält, von Windstoß zu Windstoß, von Jahrhundert zu Jahrhundert: den herben Geruch tief gepflügter Äcker, die letzten Überbleibsel von Edelfäule, die sich noch aus den Jahren gehalten haben, in denen der Duft von geschmorten Pfifferlingen durch die Straßen rund um die üppigen Küchen zog. Manchmal sind es sogar die Ausdünstungen längst vergessener Bälle, altmodischer Hochzeiten auf Kirchenvorplätzen, bei denen der Duft von Narzissen überwog. Die schamhaft errötenden Brautleute von damals sind längst zu Staub geworden. Alle diese sich verflüchtigenden Gerüche, deren Reste sie im Vorbeiwehen aus den Trümmern der verlassenen Dörfer gefegt hatte, um sie in ihren Wirbeln zu speichern, tischt die Lombarde in solchen Nächten den Waldrändern zwischen dem Estrop und dem Cheval-Blanc wieder auf, um Sehnsucht nach der guten alten Zeit in ihnen zu wecken. Manchmal lässt sie sich sogar dazu bewegen, den Blayeul damit zu bedenken, der zwischen Barles und La Javie Wache hält. Am
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