Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
Vom Netzwerk:
vereinigten.
    In den Gemüsegärten konnte man hin und her huschende Gestalten beobachten, die Selleriestauden und Kardendisteln am Boden mit altem Zeitungspapier umwickelten; man sah sie Gruben in den Schuppen ausheben, wo Karotten und Lauch eingelagert wurden. Die Zwischenräume der Lattenroste, die für die Kartoffeln bestimmt waren, wurden mit strohgefüllten Jutesäcken abgedichtet. Von allen Seiten wurden Blicke auf die montagne de Chine geworfen – verstohlene Blicke, wer wollte schon für einen Romantiker gehalten werden –, denn jeder wusste, dass der Winter von dorther seinen Einzug halten würde.
    Von der Metzgerei her verbreitete sich der verführerische Geruch der crépines, der Bratwürstchen, die der charcutier d’amour mit tränenden Augen räucherte. Mit kräftigen Schaufelhieben löschte er immer wieder die Flammen, die aus dem glimmenden Laub schlugen. Bei dem Durcheinander war er stark in Verzug geraten und musste sich jetzt ranhalten.
    Wer so intensiv mit Festtagsvorbereitungen beschäftigt ist, lässt sich durch Gerüchte von einem umherschweifenden Mörder nur wenig beeindrucken. Diese Geschichte da war ja wirklich spannend, und man unterhielt sich gern beim Abendbrot darüber. Aber man hütete sich, Vermutungen zu äußern, zumindest am Anfang. Die Erinnerung an die Hinterhalte, die einst in den clues gelegt worden und denen viele unserer Vorfahren vermutlich zum Opfer gefallen waren, war noch viel zu lebendig. Wir hatten es gerade nötig, irgendjemanden zu beschuldigen.
    Umso weniger, als die Nachkommen der Familie Melliflore, über die so viel geredet wurde, so etwas wie unsere Atriden waren, die Nachfahren des Atreus in den Basses-Alpes. Seit Generationen waren wir daran gewöhnt, dass ein Unglück nach dem anderen über sie herfiel, um sie von ihren Sünden reinzuwaschen. Und wir, die wir uns nicht mehr vorzuwerfen hatten als alle gewöhnlichen Sterblichen auch, sagten uns mit philosophischer Gelassenheit, dass es uns schon nicht treffen würde, solange es sie traf.
    Von solchen Denkgewohnheiten waren wir kaum abzubringen, und so erklärt sich, dass keiner von uns je auf den Gedanken gekommen wäre, seine Tür abzuschließen. Bis auf die Grimaude, mit der das Schicksal es in der Vergangenheit nicht gerade gut gemeint hatte. Seit jeher haben wir in Barles dem lieben Gott vertraut.
    Freilich … In letzter Zeit war der eine oder andere von uns manchmal durch das Knattern eines Mopeds aufgeweckt worden, das nachts davonfuhr.
    Wir waren sogar darauf gekommen, dass dies vor allem in den Nächten geschah, in denen den Nachfahren der Melliflores diese scheußlichen Dinge zugestoßen waren. Es war uns auch gelungen, die ziemlich große Anzahl derjenigen zu bestimmen, die ein solches Fahrzeug benutzten. Wir nahmen uns den Charakter eines jeden unter ihnen vor und berücksichtigten dabei seine Erbanlagen. Das ging schnell und einfach vonstatten, da wir uns ja alle kannten. Damit war der Kreis der Verdächtigen schnell auf höchstens drei Personen eingeschränkt, unter denen das Los entscheiden musste. Aber leider fiel dieser Losentscheid von Familie zu Familie unterschiedlich aus. Immerhin wagten es einige unter uns, vor allem die nicht alteingesessenen Bürger, sich mit verblümten Worten über diese Angelegenheit auszutauschen. Ein Bild, besser gesagt eine Skizze oder eine Silhouette mit verschwommenen, aber doch recht vielsagenden Umrissen, bildete schließlich den harten Kern all unserer Vermutungen; denn niemand wäre so weit gegangen, einen Namen zu nennen. Die Angelegenheit wurde diskutiert, allerdings nur in unserem tiefsten Inneren, denn wir verfügten nun über alle Hinweise, mit denen wir die Gendarmen auf die richtige Fährte hätten setzen können.
    Und doch schwiegen wir. Alle. Ohne dass dazu eine wie immer geartete Absprache nötig gewesen wäre. Jede Aussage hätte uns eine Menge Unannehmlichkeiten eingebracht, die unser Schweigen uns ersparte. Alle Bürger dieser Welt, die je zur falschen Zeit geredet haben, werden uns sofort verstehen. Durch unser Schweigen brachten wir uns auch nicht selbst in Gefahr, denn wir wussten ja, wo die Verbrechen verübt worden waren: in den Außenbezirken von Digne und im Talkessel von Chavailles, noch dazu mitten in einer friedlichen Nacht. An solch friedlichen und stillen Orten hätte ein unerwünschtes Zusammentreffen zweier Sterblicher gar nicht stattfinden können.
    Wenn Zeugen fehlen und der Täter sorgfältig vorgeht – und wir hatten mehr

Weitere Kostenlose Bücher